Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
wieder zu Hause, doch die Reise hat nichts gebracht.«
Verstohlen sah der Mönch zu ihr hinüber.
»Das glaube ich ganz und gar nicht.«
Vor den Mauern des Gönpa legten die Ritter ihre Waffen in einer Kate ab. Ihre Pferde wurden mit Decken, Wasser, Heu und Gojibeeren versorgt. Während des Abendmahls wurde getanzt und gesungen. Ahmed sang ein altes Gute-Nacht-Lied, dessen Bedeutung nur Ada Ta und Gua Li verstanden, doch allen gefiel die warme und liebevolle Melodie. Am Ende des Abends saß Gua Li im Schneidersitz auf ihrem neuen weichen Bett und ließ ihre Bürste langsam durch das lange schwarze Haar gleiten.
»Heute kannst du mir das erzählen, was du mir schon seit Längerem sagen willst, alter Vater. Auch ich kenne dich. Und seitdem wir abgereist sind, hütest du verborgene Gedanken.«
Sie lächelte Ada Ta an und sah zum ersten Mal den Schatten des Alters auf seinem Antlitz.
»Die Jahreszeiten folgen dem Firmament und werden nie alt, sondern erneuern sich stetig.« Es war, als würde er ihre Gedanken lesen, denn der alte Mönch nickte lächelnd. »So ist es auch mit dem Zyklus des Lebens, und das neue, das du nun in deinem Leibe trägst, wird auf das meine folgen.«
Gua Li erschrak.
»Du stirbst nicht, Vater. Du darfst mich nicht verlassen!«
»Oh, dafür ist noch viel Zeit. Solange ein Körper noch etwas zu geben hat, erhält ihn die Natur, und ich habe noch die ein oder andere kleine Lehrstunde für meinen Enkel eingeplant. Er muss seine Vergangenheit kennenlernen, damit er unbeschwert seine Zukunft leben kann.«
»Auch ich bin neugierig darauf, ihn kennenzulernen.«
»Ja, du hast recht. Und diese Nacht, in der die Sternschnuppen Teile des Himmelswissens zu uns bringen, ist die richtige dafür, sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Hast du eigentlich bemerkt, dass wir den Weg Īsās rückwärts zurückgelegt haben, hast du das bemerkt?«
»Das ist wahr, Vater.«
»Und im Gegensatz zu ihm sind wir ausgeschwärmt, um Samen zu säen, und schau, was wir mit zurückgebracht haben.«
»Das war ein Zufall. Ich kannte Ferruccio nicht und hätte auch nie gedacht, dass …«
»Alles hat eine Ordnung und eine Bedeutung. Das, was uns wie ein Zufall erscheint, ist nur ein kompliziertes großes Ganzes.«
»Vater, was willst du mir sagen?«
»Seitdem du klein warst, hast du einen großen Mann bewundert, der den Samen der Gerechtigkeit, der Liebe und der Einheit in sich trug. Ich gestehe dir, dass ich hoffte, dass sich unsere Schicksale eines Tages – wie auch immer – miteinander vereinen würden. Denn auch du trägst diesen Samen in dir …«
»Welchen Samen? Ich kenne nur den, den du mir schenktest.«
»Warte, lass mich erst zu Ende erzählen. Das, was ich dir sagen möchte, fällt mir ausnahmsweise einmal schwer. Als der edle Graf starb, war ich sehr betrübt und verlor beinahe alle Hoffnung. Doch dann eilte mir der große General Sunzi zu Hilfe. Er sagte: ›Bist du umzingelt, verwende Kriegslist, und befindest du dich in einer hoffnungslosen Situation, kämpfe.‹«
»Willst du etwa damit sagen, dass wir die Reise nur angetreten haben, damit ich mit Ferruccio ein Kind zeuge? Ada Ta, du willst mich in die Irre führen!«
Still faltete der Mönch die Hände, um die richtigen Worte zu finden – er, der mit Worten so vertraut war, rang um jeden Satz. Die Liebe seiner Tochter stand auf dem Spiel, und sie war ihm wichtiger als all sein Wissen.
»Seit Jahrhunderten hat das Geschlecht der de Mola für die gerechte Sache gekämpft und gelitten. Der Vater deines Kindes nahm Ideen von Graf Mirandola als Erbe an. Niemand aus dem Abendland wäre würdiger gewesen, um sich mit deinem Geschlecht zu vereinen. Du trägst die Geschichte Īsās in dir: Es ist deine Geschichte. Doch es gibt noch mehr.« In Gua Lis unschuldigem Blick sah er die Angst vor dem Unbekannten und schwieg. Ada Ta schloss die Augen und atmete tief die reine Luft ein, die von den allwissenden ewigen Bergen kam. Der Moment war gekommen, um das Geheimnis zu lüften.
»Meine liebe Tochter«, fuhr er fort und nahm ihre Hände in die seinen, »du trägst in deinem Blute den Samen Īsās. Die Mönche des Gönpas haben jenes Geheimnis seit über dreißig Generationen gehütet. Und ich hatte zuletzt die Ehre und die Freude, mich um deine Mutter Gua Pa und dich kümmern zu dürfen. Eines Tages werden deine Samen in eine Welt hinausgetragen werden, in der sich der Orient und der Okzident in einer einzigen Umarmung vereinen werden – so wie du
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