Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
Fensterchen wehte der frische Aprilwind, der nach Frühling roch und die verpestete Luft in der stinkenden Zelle erfrischte. Vorsichtig hievten Domenico und Silvestro Savonarola, dem dabei vor Schmerzen die Luft wegblieb, an den Achseln auf einen Schemel. Von seinen Gefährten gestützt konnte der Dominikaner durch die Gitterstäbe die Domkuppel und bis auf die Piazza della Signoria sehen. Die Kuppel erhob sich über den Dächern wie eine enorme Dreifaltigkeit, so wie er sie sich immer gewünscht hatte. Savonarola schaute über die Holzbrücke, und sein Blick blieb an einer großen runden Bühne aus Holz hängen, auf der bereits der Galgen thronte. Sie würden trockene Holzscheite auftürmen, die schneller brennen würden als die Eitelkeiten der Florentiner vor einem Jahr. Seine kategorische Strenge, was irdischen Besitz betraf, hatten sie ihm nie verziehen. Und nun kam er an die Reihe.
Er schloss die Augen und dachte an Domenico und vor allen Dingen an Silvestro, der so wehrlos und unschuldig war. Er war dazu verdammt worden, sein Los mit ihm zu teilen, obwohl sein einziges Vergehen war, an ihn zu glauben – wie ein Sohn an den Vater.
Unvermittelt wurde die Kerkertür aufgerissen. Vorsichtig legten ihn seine Zellengenossen auf den nackten Boden und setzten sich an seine Seite.
Ein Lichtstrahl fiel auf das Gesicht, das Savonarola auf den ersten Blick erkannte.
»Bist du erschienen, um mich um Verzeihung zu bitten, Francesco? Die habe ich dir bereits vor langer Zeit gewährt. Wenn du jedoch hier bist, um uns Trost zu spenden, dann sei willkommen.«
Um sich vor dem Licht zu schützen, hielt sich Francesco Mei, der Abt des Dominikanerordens San Gimignano, die Hand vor Augen und trat zur Seite, um die drei Körper, die bis auf die Knochen abgemagert waren, betrachten zu können.
»Ich überbringe Euch den Trost der Heiligen Beichte, da niemand von uns die Stunde kennt, in der uns der Herr zu sich rufen wird.«
»Wir danken dir«, antwortete ihm Savonarola, »aber die Beichte haben wir bereits untereinander abgelegt.«
Francesco Mei schlug die Kapuze nach hinten. Er ballte die linke Hand zur Faust, während er mit dem rechten Zeigefinger auf jeden Einzelnen der Zelleninsassen zeigte.
»Wenigstens Ihr, Bruder Girolamo, müsstet wissen, dass es eine Sünde ist, seinen Komplizen die Beichte abzunehmen und ihnen Absolution zu erteilen«, sagte Mei. Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt. »Daher ist die Beichte nicht gültig.«
»Gott schaut mehr auf den Inhalt als auf die Form«, murmelte Savonarola.
»Ich bin nicht mehr als dreihundert Stufen emporgestiegen, um mir Eure Gotteslästereien anzuhören. Sie haben mich vor Eurem Hochmut gewarnt, der auch jetzt nicht gezähmt ist, denn Ihr bietet der Gnade Gottes noch immer die Stirn. Ich hätte niemals geglaubt, dass Ihr im Angesicht des Todes die heiligen Sakramente verweigern würdet. So weit habt Ihr Euch also schon von Gott entfernt!«
»Es war die Kirche, die sich von ihm entfernte, nicht ich.«
Nach diesen Worten, die Savonarola unter großen Anstrengungen geflüstert hatte, zog sich Francesco Mei die Kapuze über den Kopf und schaute die anderen beiden an. Buonvicini hielt seinem Blick stand, Maruffi nicht. Sie sagten keinen Ton. Als Mei sich zum Gehen anschickte, blieb er in der Tür stehen und drehte sich noch einmal um.
»Derjenige, der Zwist auf Erden bringt, wird nie das Paradies sehen.«
Erst als die Schritte auf den Treppen verhallt waren, legte Maruffi sein Gesicht auf Girolamo Savonarolas Brust und begann leise zu weinen.
»Ich möchte so gerne die Engel sehen, die bei unserem Herrn sind. Oh, guter Vater«, sagte er unter Tränen, »was ist das Paradies?«
Savonarola strich ihm sanft über die Tonsur.
»Das Paradies sind die Arme einer Mutter, die ihr Kind umarmt.«
»So etwas habe ich noch nie gehört«, bemerkte Buonvicini überrascht. »Ich kann mich nicht erinnern, dass wir in unseren Predigten so etwas Ähnliches gesagt hätten.«
Savonarola lächelte! Buonvicini war nun doch gänzlich durcheinander und befürchtete zum ersten Mal, dass die Leiden den Geist seines Meisters vernebelt hätten.
»Mein lieber Freund«, antwortete Savonarola ihm ruhig, »die Wege des Herrn sind unergründlich, doch manches Mal sendet er uns Zeichen. Bevor er starb, übergab Christus seine Mutter symbolisch der Obhut des Johannes. Und weshalb? Weil sie die Mutter der Menschheit war. Und ihr wisst nur zu gut, dass jedes Wunder nur durch ihre persönliche
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