Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
eine Säulenreihe verbarg die Sänger. Der Stimmenkanon hallte von den Wänden wider und breitete sich, mal anschwellend, mal abschwellend, im gesamten Kirchenraum aus. Carnesecchi hörte dem Gesang versunken zu, als ein unsicher wirkender Jüngling in Begleitung zweier Hellebardenträger zu ihm trat.
»Ihr habt ein blaues Tüchlein.«
»Ich trage es zu Ehren der Heiligen Jungfrau.«
Das war die vereinbarte Antwort.
»Nun denn, folgt mir«, sagte der Jüngling. »Seine Heiligkeit erwartet Euch. Übergebt mir zuvor jedoch Euer Schwert.«
Carnesecchi tat, wie ihm geheißen.
»Tragt Ihr noch weitere Waffen bei Euch?«
»Nein, mein Herr.«
Der Jüngling führte Carnesecchi ans andere Ende des Querschiffs und von dort über eine breite Treppe in einen Nebentrakt des Kirchengebäudes hinauf. Sie durchquerten mehrere Räume, bis sie vor einem unscheinbaren Türchen standen, das durch einen langen, dunklen, stollenähnlich engen Gang zu einer weiteren Treppe führte. Wie Blitze drangen das gleißende Tageslicht und der Straßenlärm durch die engen Luftschlitze bis zu ihnen hinein. Dann ging es die feuchten, im Fackelschein glänzenden Steinstufen hinab, die wiederum vor einer verschlossenen Tür endeten. Als der Jüngling sie öffnete, musste Carnesecchi für einen Moment die Augen schließen, so sehr blendete ihn das gleißend helle Tageslicht. Er hörte das trockene Klappern von Übungsschwertern und sah dann die Waffenträger auf dem gepflasterten Innenhof der Festung, die sich mit Schwert und Stock an Strohpuppen übten. Im Gehen sah Carnesecchi sich um: Die Festungsmauern waren so hoch wie der Glockenturm. Hier würde ihm nicht einmal Ulrich helfen können.
»Willkommen in der Engelsburg.«
Der Jüngling deutete eine leichte Verbeugung an – mit der Eleganz desjenigen, der Routine im Katzbuckeln hat.
»Ich bin Jofré Borgia. Mein Vater erwartet Euch in seinem Studierzimmer.«
Sie würden nicht zögern, ihn umzubringen, sollten sie die Absicht haben, das wusste Carnesecchi. Und verneigte sich ehrerbietig vor Seiner Heiligkeit.
Papst Alexander VI. nahm die Pergamentrolle entgegen und zerbrach den Siegellack, der das Wappen der Medici trug. Dem Überbringer schien es schlecht zu gehen, stellte er aus dem Augenwinkel fest. Offensichtlich befand er sich unter größter Anspannung, denn er trat ohne Unterlass von einem Fuß auf den anderen. Dass die Botschafter nicht für die Fehler ihrer Auftraggeber zur Rechenschaft gezogen werden konnten, war ein Mythos, an den mittlerweile niemand mehr glaubte – und am allerwenigsten die Botschafter selbst. Dieser Bote war eine dumme Fliege, die gerade bemerkt hatte, dass sie sich nicht mehr aus dem Spinnennetz würde befreien können, in das sie sich verstrickt hatte. Und tatsächlich rührte sich in Carnesecchi jener Urinstinkt, der allen Lebewesen innewohnt: diese dunkle Vorahnung, dass hier und jetzt das eigene Leben auf dem Spiel steht. Ab jetzt würde er sich immer tiefer und unrettbar in sein Unheil verstricken, was umso tragischer war, als Alexander VI. sich sicher war, dass er nicht einmal den Inhalt des Sendschreibens kannte, das er überbracht hatte.
»Geht«, befahl Seine Heiligkeit. »Ich werde Euch rufen lassen.«
Und die Fliege flog davon.
Im Gasthaus zur Feisten Kuh, Rom
Jeden Morgen erwachte er schweißgebadet und mit einem furchtbaren Druck auf seinem Herzen. Diese Unfähigkeit, weder schreien noch fliehen zu können, war das Schlimmste in seinen nächtlichen Alpträumen. Noch schmerzlicher jedoch waren das Erwachen und die Abwesenheit Leonoras – eine Qual ohne Ende. Seine Zimmergenossen wechselten ständig. Ferruccio nahm ihre Anwesenheit überhaupt nicht wahr, und sie hielten sich geflissentlich von ihm fern. Nicht einmal so sehr wegen seines bedrohlich-düsteren Aussehens, das durch seine schwarze Kleidung noch verstärkt wurde, sondern weil er Sorgen und Verzweiflung verströmte, die nach Tod und Trauer rochen. Sogar die Huren hatten es aufgegeben, ihre Preise noch weiter für ihn zu senken – zuletzt hatte eine ihm für fünf Heller die ganze Nacht angeboten. Mittlerweile hatten sie Angst vor ihm wie vor einer ansteckenden Krankheit oder einem Fluch, und wenn er an ihnen vorbeikam, traten sie rasch zur Seite, damit er nicht einmal ihre Kleider berührte.
Mittlerweile war sein Wunsch nach Rache schwächer geworden und sein Stolz verschwunden. Ferruccio wollte nur noch eines: Leonora wieder bei sich haben. Er hatte sogar eine Bittschrift an
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