Das Vermächtnis des Ketzers: Roman (German Edition)
mehreren Fenstern befand sich im ersten Stock des größten der drei Gebäude. In den kleinen Nebengebäuden waren der Hühnerstall und ein Lagerschuppen mit Kaninchenställen untergebracht. Sie konnte ein Gutteil des Areals durchmessen, denn die Eisenkette, an die sie gekettet war, reichte bis zum Hühnerstall; Leonora konnte sogar den Gemüsegarten begutachten. Bruder Marcello hatte den Eisenring um ihren Hals mit Kaninchenfell ausgekleidet, das sie zwar kitzelte, aber wenigstens ihren Hals vor dem harten Metall schützte. Dieser Halsschmuck würde eigentlich besser zu einem Hund als zu einer Dame passen, pflegte Bruder Marcello mit einem Lächeln auf den Lippen zu sagen. Diese ungewohnte Freundlichkeit, die der Mönch in letzter Zeit an den Tag legte, machte Leonora Sorgen – größere Sorgen als das ungeborene Leben, das sie unter dem Herzen trug und das sie mit allen Mitteln verteidigen musste. An diesem Ort wohnten nur sie beide. Ab und an kam ein mysteriöser Reiter vorbei, dessen flüchtige Besuche Leonora nur an den Geräuschen seines Pferdes ausmachen konnte, da sie weder seine Stimme hörte noch ihn je zu Gesicht bekam. Das einfache Volk besaß zwar eine instinktive Ehrfurcht vor Gott, und da es sich vor ewiger Verdammnis fürchtete, beachtete es die Gebote genau – auf dass die Heilige Jungfrau keine Tränen vergießen oder Christus keine neuen Wunden erleiden müsste. Dass diese Ehrfurcht vor Gott allerdings auch bei dem vermeintlichen Mönch ausgeprägt war – darauf wollte sich Leonora ganz und gar nicht verlassen.
Sie hoffte deshalb darauf, dass er seinem Auftraggeber gehorchte und dass er den üblichen Befehl, die Geisel nicht anzurühren, befolgte. Sogar der Bruder des Sultans, der gute Cem, war über Jahre hinweg mit Respekt behandelt worden, und wie alle wussten, hatte er schließlich sogar eine Dame aus dem italienischen Adel geheiratet. Er führte das Leben eines christlichen Fürsten und hatte alle europäischen Höfe besucht, obwohl er ein lebendes Pfand war – bis zu seinem Tode, flüsterte man sich hinter vorgehaltener Hand zu. Oder wenigstens so lange, wie er seinem Geiselnehmer nützlich war, hätte Ferruccio hinzugefügt. Wo immer Ferruccio sich auch befinden mochte, und sei es in der Hölle – er würde seine Aufgabe erfüllen. Und wenn er etwas wollte, das wusste Leonora, dann konnte er alles erreichen. In ihren Tagträumen empfing sie ihn mit ihrem Kind auf dem Arm und brachte ihn davon ab, Bruder Marcello zu töten … so würde es sein, wenn alles liefe wie geplant. Andernfalls würde sie dem Mönch höchstpersönlich die Kehle durchschneiden. Zu gegebener Zeit.
24
Rom, am Abend des 29. Juli 1497
Fürst Colonna drehte ihnen den Rücken zu, denn er war gerade dabei, eine Landkarte auf dem Tisch zu studieren. Dunkle Schweißflecke zeichneten sich auf seinem ärmellosen Umhang aus Leder ab.
»Ich habe ein Abkommen mit dem König von Neapel getroffen, jährlich drei Dutzend Soldaten zu unterhalten, aber ich befürchte, das wird mich weit mehr als die sechstausend Scudi kosten, die ich aus den neuen Ländereien gewinne.«
Gabriel machte eine Grimasse, um Ferruccio zu bedeuten, dass er nichts verstanden habe. Der Fürst drehte sich zu ihnen um.
»Ihr seid also Ferruccio de Mola. In Anbetracht Eurer Unternehmungen hielt ich Euch für älter.«
Schweigend hielt Ferruccio den Blicken des Fürsten stand. Die braunen Locken, die ihm bis zu den Schultern reichten, ließen den edlen Römer freundlich aussehen. Sein bärtiges, von der Sonne gegerbtes Gesicht mit dem Spitzbart verlieh ihm eine Autorität, die nach vielen gewonnenen und verlorenen Schlachten uneingeschränkt auch von seinen Soldaten anerkannt wurde.
»Gut, Ihr seid ein Mann weniger Worte, nein, eigentlich gar keiner Worte. Worte sind in diesem Fall auch gar nicht notwendig. Ich hoffe, dass ich mich sobald wie möglich von der Anwesenheit der anderen Gäste und der Euren befreien kann. Sie sind gestern eingetroffen, und ich hatte ihnen schlichtweg nichts zu sagen. Doch solange Ihr innerhalb dieser Mauern weilt, werdet Ihr mit dem Respekt behandelt, den ich Eurem Herrn schulde. Wenn Ihr aber geht, kann ich weder für Euer Leben noch für das der anderen garantieren. Es sind harte Zeiten, de Mola, und Euer Leben hängt an einem seidenen Faden.«
»Habt Dank, Monsignore, aber ich ziehe es vor, auf mein Schwert zu vertrauen.«
Fabrizio Colonna warf ihm einen scharfen Blick zu, und Gabriel begann innerlich, alle ihm
Weitere Kostenlose Bücher