Das Vermächtnis des Kupferdrachens ("Drachenkronen"-Trilogie) (German Edition)
Gähnend warf sich Zerorim seinen Umhang über die Schulter, winkte dem jungen Zwerg zu und eilte dann den Hang hinunter zu seiner kleinen Hütte, die direkt neben dem Gemeinschaftsstall am Marktplatz stand. Wynn sah ihm einige Augenblicke nach, ehe er in den Wachraum trat und die mit Eisenbändern verstärkte Tür zum Gefängnis sorgfältig hinter sich abschloss. Ein leises Stöhnen ließ ihn innehalten. Er zündete seine Laterne an und lauschte. Das Stöhnen ging in ein Röcheln über, das immer leiser wurde und dann verstummte. Wynn eilte zur Gittertür der zweiten Zelle und spähte hinein. Durim, der einzige Gefangene in dem kleinen Steinhaus am Fuß der Felswand, saß gegen die Wand gelehnt und mit auf die Brust gesunkenem Kopf da. Sein linker Arm steckte in einem Eisenring, der mit einer Kette in der Wand verankert war, und seine Füße waren mit Ringen und einem Stück Kette aneinander gefesselt. »Durim?«
Der ehemalige Vormann des Bergwerks regte sich nicht. Wynn zögerte einen Moment. Sollte er nachsehen, ob Wulfer in der Nähe war? Oder vielleicht konnte er Zerorim noch einholen? Nein, Wynn durfte den Gefangenen auf keinen Fall allein lassen. Außerdem war es schon nach Mitternacht, und bis auf die Wachen im Turm war er wohl der einzige Zwerg des Dorfes, der nicht schlief.
Und wenn Durim jetzt starb? Die anderen würden ihm sicher Vorwürfe machen, wenn sie um die Genugtuung einer feierlichen Hinrichtung gebracht wurden. Zögernd steckte Wynn den Schlüssel ins Schloss. Es ächzte ein wenig, als er den Schlüssel drehte. Zu lange war das Gefängnis nicht mehr benutzt worden.
»Durim, was ist mit dir?«
Der Gefangene rührte sich immer noch nicht. Vielleicht war er bereits tot? Das Abendessen stand unangetastet neben ihm. Ohne weiter nachzudenken, eilte Wynn zu dem Reglosen, kniete nieder und legte ihm das Ohr an die Brust.
Das Herz schlug noch. Dann war er also nur ohnmächtig.
Wynn konnte seinen Gedanken nicht zu Ende führen. Er merkte noch, dass der Ohnmächtige sich plötzlich bewegte, da legte sich die Kette schon um seinen Hals und nahm ihm die Luft. Wynn strampelte und versuchte zu schreien, aber nicht einmal ein Röcheln kam aus seinem Mund. Die Eisenglieder schnitten ihm in den Hals, und er spürte Durims tastende Hand am Gürtel. Dann wurde ihm plötzlich kalt. Erstaunlich klar spürte er, wie das eigene Messer ihm mühelos in die Brust fuhr. Die Kette um seinen Hals lockerte sich, doch es war schon dunkel um ihn, und sein Kopf fiel schlaff zur Seite. Nur der Schreck blieb in den glasig werdenden Augen zurück.
Fieberhaft durchsuchte Durim die Taschen des Toten nach dem Schlüssel für die Eisenringe um Hand-und Fußgelenke. Der erste war zu groß, der nächste auch. So ein Mist! Der Kerl hatte nur die Schlüssel für die Türen an seinem Gürtel! Er musste sich etwas einfallen lassen. Vor dem nächsten Wachwechsel musste er bereits weit fort sein. Plötzlich hielten seine Hände inne und ertasteten einen kleinen Metallstift in der Gürteltasche des Wächters. Damit konnte es gehen! Mit zitternden Fingern zog Durim den Stift heraus. Er war so nervös, dass er eine ganze Weile brauchte, ehe er die Spitze in die winzige Schlossöffnung geschoben hatte. Er drehte und stocherte, doch die Fesseln wollten nicht aufgehen. Vor Aufregung wurden seine Bewegungen immer fahriger und ungeschickter.
So kam er nicht weiter. Verdammt, er musste sich beruhigen!
Er schloss die Augen und versuchte tief und langsam zu atmen. Dann bewegte er den Metallstift noch einmal vorsichtig hin und her. Das leise Klicken entlockte ihm ein erleichtertes Stöhnen. Die Fußfesseln stellten nun kein Problem mehr dar.
Bevor er sein Gefängnis verließ, leerte er dem Wächter die Taschen und steckte seine wenigen Habseligkeiten ein. Auch den Dolch nahm Durim mit. Im Wachraum fand er noch etwas Proviant und einen Wasserschlauch. Mit klopfendem Herzen drehte er den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür in die Freiheit.
Nichts wie weg! Er grinste. Nun mussten sich die Dorfbewohner jemand anderen für ihre Hinrichtung suchen!
*
Rolana fuhr aus dem Schlaf und sah sich furchtsam um, doch alles war ruhig. Thunin ging in einiger Entfernung auf und ab und hielt Wache, die anderen schliefen friedlich. Der Mond sandte sein silbriges Licht herab, und die Bäume flüsterten im Nachtwind. Es gab nichts, womit sich ihr heftig klopfendes Herz erklären ließ. Eine quälende Unruhe drängte sie aufzuspringen, ihr Pferd zu satteln
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