Das Vermächtnis des Martí Barbany
Mädchen. Der fünfundzwanzig Jahre ältere Pons war ein erfahrener und wollüstiger Mann, der ihr das Bett wärmte, und obwohl er sie in die verschlungenen Labyrinthe der Lust einführte, lernte sie nie die romantische Leidenschaft kennen, von der die Troubadoure bei den Abendgesellschaften im Schloss sangen. Stets vermutete sie, dass sich hinter der Gemeinschaft zwischen Mann und Frau etwas verbarg, was ihr entging. Ihre einzigen Zerstreuungen in der Burg waren bisher ihre Damen, die höfischen Feste und vor allem Delfín, ihr geliebter und buckliger Hofnarr.
Almodis zog sich in ihre Gemächer zurück, um die Festkleidung anzulegen, die sie beim Abendessen tragen sollte. Während sich ihre Kammermädchen um sie kümmerten, gab sie sich ihren Gedanken hin, und da sie wusste, wer der Besucher war, entsann sie sich der Prophezeiung, die sie in ihrem ganzen unglücklichen Leben beherzigt hatte.
Obwohl die Ereignisse zweiundzwanzig Jahre zurücklagen, erinnerte sie sich so lebhaft daran, als wären sie einen Tag zuvor geschehen.
Die Stadt war am Morgen unter einer blendend weißen Schneedecke erwacht, die die Konturen der Dinge entstellte. Die Flocken schwebten wie Schwanenfedern in der Luft und sanken langsam und zögernd herab. Almodis schaute aus ihrem Zimmerfenster und wurde sich bewusst, dass an die Stelle der Landschaft, die sich vor ihren Augen ausbreitete und die zwölf Jahre lang der einzige Rahmen ihres Lebens gewesen war, von diesem Tag an endgültig eine andere treten würde. Sie blickte zum Glockenturm der Hauptkirche empor. Sie fühlte sich vom fröhlichen Glockengeläut angezogen, das offenbar ihre Vermählung mit Guillaume III., dem zukünftigen Grafen von Arles, feierte. Sie beobachtete, wie die Traufröhren aus Eis Wassertränen auf die Dächer der Nachbarhäuser ausgossen, weil sie über ihren Abschied wehklagten. Vielfältige und widersprüchliche Gefühle stritten in ihrer Seele miteinander. Zum einen sehnte sie sich nach ihrer Kindheit zurück, die unwiederbringlich dahinschwand und dabei die idyllischen Landschaften ihrer geliebten Heimat, die Kinderspiele mit ihren Geschwistern, die wasserreichen Flüsse, die wunderschönen Abenddämmerungen, die goldenen Weizenfelder und die Ritte durch die dichten Frühlingswälder mit sich nahm. Eine innere Stimme sagte ihr, dass alle derartigen Gefühle schon an diesem Tag, sobald sie die vorgeschriebenen Verlobungsworte ausgesprochen hätte, einen immer ferneren Platz in den geheimen Winkeln ihrer innigsten Erinnerungen einnehmen würden. Solche Gedanken bedrückten sie, ohne dass sie wusste, warum. Große Augenblicke wurden ihr hingegen von einer hoffnungsvollen Aura verheißen, die einem Regenbogen glich und sich am Horizont verlor. Nun erinnerte sie sich an die sonderbare Episode, die ihr an einem Nachmittag in diesem Winter widerfahren war. Zusammen mit ihrem Bruder Adalbert war sie in den Wald eingedrungen, weil sie zum ersten Mal mit ihrer Stute Hermosa ausreiten wollte. Als sie am Morgen gesehen hatte, wie das Tier im Waffenhof der Burg aufgezäumt wartete – es war ein Geschenk ihres Vaters Bernard de la Marche zu diesem höchst bedeutsamen Tag -, klopfte ihr das Herz vor Freude bis zum Hals. Die Stute war weiß wie der Schnee, der gerade herabrieselte. Sie hatte einen kleinen Kopf, kluge Augen und rabenschwarze Füße. Almodis ahnte, dass sich eine besonders innige Beziehung zwischen ihr und dem Tier herausbildete. Es war ein herrlicher Nachmittag: Das Licht drang durchs Gezweig des Waldes. Überall hingen Eiszapfen, die rätselhafte,
unsagbar schöne Formen bildeten. Sanfter Wind, ein ewiger Gast in diesen Gegenden, säuselte ihr um die Ohren und wurde vom leichten Galopp der Stute verstärkt. Adalbert, der ihr folgte, konnte sie kaum einholen. Deshalb hielt Almodis das Tier an, um auf ihren Bruder zu warten. Die Stute spitzte die Ohren, wieherte leise und scharrte mit dem rechten Fuß auf dem Waldboden. Almodis’ Bruder zog heftig an den Zügeln und ließ sein Tier neben ihr halten.
»Sieh nur! Dort, Almodis!«
Sie blickte hoch und entdeckte eine schmale weißliche Rauchsäule, die in einer Entfernung von weniger als einer halben Meile träge zum Himmel aufstieg. Obwohl die Geschwister dieses Waldstück oft durchstreift hatten, war ihnen bis zu diesem Nachmittag nie etwas Ähnliches aufgefallen.
»Vorwärts, Bruder. Sehen wir nach, wer in unserem Wald wohnt.«
Dass sie von »unserem Wald« gesprochen hatte, traf genau zu: Beide sahen
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