Das Vermächtnis des Martí Barbany
die neue Thorarolle geweiht würde.
Benvenist, den wie immer Stapel alter Handschriften und Dokumente umgaben, prüfte ein auf seinem Tisch liegendes Manuskript, das ihm ein alter Freund aus Toledo geschickt hatte und das er Eudald Llobet zeigen wollte, denn er hielt den Erzdiakon für die einzige bedeutende Autorität bei solchen Themen, was auf sein Amt in der Kathedrale, seinen klaren Verstand und seine offenherzige, kaum zur Geringschätzung anderer Religionen neigende Gesinnung zurückzuführen war: Er erläuterte gleichermaßen die Übersetzung arabischer Gedichte von Hassan bin Zabit, eine Komödie des Griechen Aristophanes, obwohl sie ein schlüpfriges Thema behandelte, oder eine Schrift des heiligen Augustinus.
Es klopfte leise an Benvenists Tür, was ihn an das Gespräch erinnerte, das er mit seiner jüngsten Tochter vereinbart hatte.
»Kann ich eintreten, Vater?«
»Natürlich, Ruth.«
Das junge Mädchen öffnete die Tür und betrat das geräumige Arbeitszimmer. Baruch staunte immer wieder über das anziehende Aussehen dieses Mädchens: die schlanke Taille, das vollkommene Oval ihres Gesichts, die Mandelaugen und die für die Frauen ihres Lebenskreises ungewöhnliche Entschlossenheit. Ganz besonders, weil sie sein Kind und das seiner Frau war, die nicht gerade wie ein Ausbund an Schönheit wirkte und es auch nicht in ihrer Jugend gewesen war.
»Darf ich mich setzen, Vater?«
Etwas im Ton des Mädchens beunruhigte ihn, und während er das Pergament zusammenrollte, stimmte er zu.
»Selbstverständlich, Ruth. Du wirst doch nicht stehen bleiben, während du mir die ernste Angelegenheit vorträgst, die dich gedrängt hat, mich um ein so besonderes Treffen zu bitten.«
Baruch glaubte, dass seine Tochter den Scherz verstehen und sich entsprechend verhalten würde. Stattdessen überraschte ihn die Antwort des Mädchens.
»Ich freue mich, dass Ihr geahnt habt, dass das, was ich Euch mitteilen will, äußerst wichtig ist.«
Ruths ernste Miene verstärkte die Befürchtungen des alten Mannes weiter.
»Du machst mir Sorgen... Was hast du, Tochter?«
»Also, Vater, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.«
»Sprich bitte ohne Zögern. Wir sind allein, und wir haben genug Zeit.«
Ruth atmete tief ein, blickte ihrem Vater fest in die beunruhigten Augen und begann mit ihren Erklärungen.
»Gut. Ihr habt mich immer wie ein kleines Mädchen behandelt. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich die jüngste Schwester bin, oder ob es einen anderen sonderbaren Grund dafür gibt; jedenfalls habt Ihr mir immer das Gefühl gegeben, dass ich klein bin.«
»Vielleicht hast du recht«, gab Baruch lächelnd zu. »Und es kann auch sein, dass ich mich übermäßig dagegen gesträubt habe, anzuerkennen, dass du herangewachsen bist. Aber schon seit einiger Zeit behandle ich dich mit der gleichen Rücksicht wie deine Schwestern. Vielleicht haben die unermessliche Liebe, die ich als Vater für dich empfinde, und der Wunsch, dass du immer mein kleiner Liebling bleibst, diese Haltung gefördert, doch wenn dies das Problem ist, so sollst du wissen, dass es gleich heute aus dem Weg geräumt wird.«
»Das ist nicht das Problem.« Ruth stützte beide Hände auf die Stuhllehnen, als müsste sie Schwung holen, um weiterzureden. »Die Schwierigkeit ist, dass Ihr mich niemals wie eine Frau behandelt habt. Und jetzt... Meine Probleme sind die einer Frau, nicht die eines Mädchens, das man mit Ingwergelee tröstet und das Anweisungen fügsam gehorcht, die seine Zukunft betreffen.«
»Ruth, ich habe dir schon gesagt, dass ich bereit bin, meine Haltung zu ändern, und das sage ich dir, ohne dass ich meine Autorität als Vater beeinträchtige und ohne dass es mir leidtut. Bitte, erzähle mir von deinem Problem, wenn es eines gibt, und wenn es von mir abhängt, kannst du es schon als gelöst ansehen.«
Ruth wandte den Blick ab. Das dauerte nur einen Moment. Dann schaute sie wieder ihren Vater an.
»Mutter hat mir von möglichen Heiratskandidaten erzählt, Vater.« Ruth atmete tief durch, bevor sie weitersprach. »Also, ich will Euch mitteilen, dass ich keinen von ihnen nehme.«
Baruchs Miene zeigte, dass er die Beherrschung verlor.
Ein kurzes Schweigen trat ein – so spannungsreich, dass man sogar das Knarren des Holzbodens hörte -, bevor der Mann antwortete.
»Weißt du, was du da gerade sagst?«
»Nie war ich meiner Worte so sicher wie in diesem Augenblick.«
»Darf man erfahren, was ein solcher Unsinn zu bedeuten hat?
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