Das Vermächtnis des Martí Barbany
doch in jeder Nacht meines Lebens habe ich mich an ihn erinnert.«
»Nun, wenn du es wünschst und wenn du mir bei meinem Unternehmen hilfst, steht es dir frei, zu ihm zu gehen.«
»Nein, gnädiger Herr.« Die Sklavin seufzte resigniert. »Das ist schon vor viel zu vielen Monden geschehen. Jetzt ist er gewiss ein wohlhabender Familienvater, und es hat keinen Sinn, wenn man erreichen will, dass alles wie früher wird. Ich möchte mich lieber meinen Träumen hingeben, als in einer bitteren Wirklichkeit zu erwachen. Da ich keine Jungfrau mehr bin, würde ich meine Angehörigen entehren, wenn ich zurückkehrte. Sie würden mir die Schande nicht verzeihen, und man könnte mich sogar steinigen. An Eurer Seite habe ich wieder Frieden gefunden, und das kann ich nie vergessen.«
»Nun gut, Aixa. Du weißt, wenn ich nicht den gesellschaftlichen Regeln gehorchen müsste, würde ich euch alle gleich morgen freilassen.«
»Warum bietet Ihr dann mir die Freiheit an, gnädiger Herr?«
»Weil ich möchte, dass du mir freiwillig den Gefallen tust, um den ich dich bitten will.«
»Für mich werdet Ihr immer mein gnädiger Herr sein, und ich werde stets in Eurer Schuld stehen.«
»An dem Tag, als ich dich gekauft habe, kannte ich deine Vorzüge nur vom Hörensagen, und ich wollte die Gelegenheit nutzen, um die Frau kennenzulernen, die auch für dich geboten hat. Seit dem Tag damals flogen meine Gedanken immer, wenn du mir deine schönen Melodien vorgetragen hast, wie Schwalben zu ihr. Deine Stimme brachte sie dorthin.«
»Ihr ehrt mich über alle Maßen, gnädiger Herr. Doch verzeiht, wenn ich nicht verstehe, welchen Auftrag Ihr mir zugedacht habt.«
»Aixa, in ein paar Monaten reise ich in ferne Länder ab, und das für lange Zeit. Ich würde mich sehr unwohl fühlen, wenn ich deinen Lerchengesang in einem Käfig einsperrte, sodass viele Monate lang niemand deinen Wohlklang hörte. Es würde mir gefallen, dass du während meiner Abwesenheit die Abende der Dame meines Herzens erfreuen und ihr von mir erzählen könntest, um mir zu helfen, ihre Liebe zu erringen. Aber das sollst du freiwillig tun, ohne dass du als meine Sklavin dazu gezwungen bist.«
»Gnädiger Herr, Eure Großmut beschämt mich. Gern tue ich, was Ihr
von mir erbittet. Aber lasst mich nicht frei: Ich wüsste nicht, was ich mit meiner Freiheit anfangen sollte.«
»Mein Herz hat dich schon freigegeben. Das bleibt ein Geheimnis zwischen dir und mir, doch du sollst wissen, dass ich zu einem Notar gehe, damit er deine Freilassung beglaubigt. Während meiner Abwesenheit wird Caterina das Dokument verwahren: Ich weiß nicht, was das Leben für dich bereithält, doch du sollst erfahren, dass du niemandem gehörst und dass du mit meiner ewigen Dankbarkeit rechnen kannst, wenn du erreichst, dass im Gemüt meiner Geliebten ein Gefühl der Zuneigung für mich entsteht.«
Drei Tage später, zur Vesperstunde, fuhr Omar auf einem Pferdewagen die freigelassene, mit ihrer besten Festkleidung herausgeputzte Sklavin zu Bernat Montcusís Herrenhaus. Der Diener hatte einen versiegelten Brief für den Hausherrn bei sich. Darin dankte ihm Martí für die Erlaubnis, seiner Stieftochter die Künste Aixas darbieten zu dürfen, und Aixa hatte einen zweiten Brief im Futter ihrer Kleidung versteckt, der für Laia bestimmt war.
32
Bernat Montcusí
A m Abend öffnete sich eine Hintertür in der Mauer, die das Herrenhaus am Castellvell umgab, und ein bescheiden gekleideter Mann trat heraus. Er blickte sich nach beiden Straßenseiten um und steckte den schweren Schlüssel, mit dem er wieder abgeschlossen hatte, in eine tiefe Tasche seines Überrocks. Dann hüllte er sich in seinen Mantel, zog sich die Mütze bis zu den Augenbrauen herunter und lief los. Er bewegte sich an der Mauer entlang, bis er eine Straße erreicht hatte, die wegen ihrer Bäckereien berühmt war. Nachdem er mit gesenktem Blick, weil er nicht in dieser Verkleidung erkannt werden wollte, die Straße abgesucht hatte, nahm er eine Abkürzung durch eine Passage und kam zu dem Platz, an dem sich die Kirche der Heiligen Justus und Pastor befand. Die Glocken läuteten zum Vespergebet, und die Pfarrkinder traten nach der Messe ins Freie. Der Vermummte geduldete sich, bis sich der kleine Platz leerte, und als er meinte, dass der Weg frei war, ging er zur Kirchentür. Er stieß sie auf. Der Mann kam ins Gotteshaus. Noch schwebte der Wachs- und Weihrauchduft in der Luft.
Der Besucher wartete, bis sich seine Augen an das
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