Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
bereit, auf unerwartete Bewegungen zu reagieren.
»Ich gehe davon aus, dass du es nicht darauf anlegen willst, auch noch dein Leben zu verlieren, also höre mir zu: Der Priester und ich werden jetzt die Kirche verlassen. Wenn du so lange hier liegen bleibst, lasse ich dir dein Leben. Aber glaube mir, ich habe auch kein Problem, es dir mit einem Schnitt zu nehmen!«
Vater Everard war einen Moment lang zu fassungslos gewesen, um etwas zu sagen. Er konnte nicht glauben, was er sah. Spielten Hunger und Erschöpfung ihm etwa einen Streich? Oder war es die Dunkelheit in der Kirche? Nein, er irrte nicht! Der Blick, mit dem der Blonde ihn ansah, verriet, dass auch er ihn erkannt hatte. »Lass den Mann los, Kuno. Ich kenne ihn. Er heißt Johannes von Holdenstede. Ich habe dir heute von ihm erzählt. Erinnerst du dich an die Magd, die eigentlich ein Mann war?«
Die drei Männer brauchten eine Weile, um alle Wirrungen und Unklarheiten zu beseitigen. Während dieser Zeit verließen sie weder die Kirche, noch den Platz hinter dem Altar; sie waren einfach dort sitzen geblieben, wo Kuno dem Taschendieb das Messer an die Kehle gesetzt hatte.
Hier erzählte Johannes seine Geschichte als Erster. Nachdem seine Tarnung als Magd Johanna aufgeflogen war, hatte er das Gebiet um Hamburg verlassen. Er berichtete, dass er sich letzten Sommer in Bremen aufgehalten hatte, wo er sich in seiner Not einer Gruppe von Dieben anschloss. Diese Männer waren überall und nirgendwo zu Hause – zogen stets weiter, wenn sie sich ein paar Wochen lang an den Bürgern einer Stadt bereichert hatten, da sie sonst Gefahr liefen, erkannt zu werden. Irgendwann, zwei oder drei Städte später, verschlug es sie schließlich nach Münster, wo er bis heute im Verborgenen lebte. Als das erzählt war, stellte Johannes seine Fragen: Wer war Kuno, und warum war der Geistliche mit ihm in Münster?
Everard erzählte von seiner Strafe, von Köln und den Münzen, und von den Umständen, die ihn zur Aufgabe seines Plans gebracht hatten, was die Anwesenheit Kunos erklärte.
Irgendwann waren die drängendsten Ungewissheiten geklärt. Zwar hätten sie mit Leichtigkeit weiter in die Tiefe gehen können, schließlich verband Johannes und Everard eine gemeinsame Vergangenheit, doch sie einigten sich stillschweigend darauf, diese auf sich beruhen zu lassen. Alle Vorwürfe und Schuldzuweisungen waren in ihrer heutigen Lage überflüssig. Es hätte nichts geändert. Was geschehen war, war geschehen!
So beschlossen die Männer, die kalte Kirche zu verlassen, welche wie durch ein Wunder in der Zwischenzeit von keiner Menschenseele aufgesucht worden war.
»Kommt mit«, forderte Johannes und erhob sich mit steifen Beinen. Er zeigte auf Kunos Hand, in der noch immer dessen Beute ruhte, und sagte: »Ich schlage vor, dass wir von den Münzen etwas trinken gehen. Teilen erscheint mir gerecht, nachdem ich das Ledersäckchen zunächst geklaut und du es mir dann wieder abgenommen hast. Ich kenne eine gute Schenke, in der das Bier nicht so dünn ist …«
»Eine gute Idee«, gab Kuno zurück, der diesen Vorschlag als gerecht empfand.
Everard schaute zwischen den Männern hin und her. Eben noch hatten sie einander töten wollen, und jetzt waren sie sich einig wie Brüder. Verstehe einer die Verschlagenheit von Dieben, kam es ihm in den Kopf. Kurzzeitig fragte er sich, ob er diesem Frieden trauen konnte, doch es war eindeutig zu kalt in der Kirche, um dieser Frage hier und jetzt nachzugehen. Drum ließ auch er sich nicht lange bitten.
Gemeinsam traten sie hinaus auf die dämmerigen Straßen. Sie durchquerten die halbe Stadt bis in ein Viertel, das zweifelsohne nicht zu den vornehmsten zählte. Hier, hinter der unscheinbaren Tür eines schiefen Fachwerkhauses, ging es wahrhaft heiter zu. Hitze schlug ihnen entgegen, als sie eintraten, und schnelle Flötenmusik drang an ihre Ohren. Das verrauchte Innere der Schenke war in gelbliches Licht gehüllt, das die Gesichter der Betrunkenen nicht rot, sondern sonnengebräunt erscheinen ließ. Jenes Trugbild täuschte allerdings nicht lange darüber hinweg, dass in Wahrheit so gut wie jeder hier über den Durst getrunken hatte. Einige sangen derbe Lieder, andere hingen bereits halb ohnmächtig über den Tischen.
»Diese Schenke ist das Tor zur Hölle, Vater. Ich hoffe, Ihr ertragt so viel Sünde auf einem Haufen«, scherzte Johannes und warf Everard einen Blick über die Schulter zu. Ihm selbst war es ganz gleich, wie sündig es hier zuging. Ganz
Weitere Kostenlose Bücher