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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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beiden konnten nicht sehen, dass Oda durch den Spalt einer wenig geöffneten Luke spähte. Sie sah die beiden, eng beieinander gehend und lachend, weil sie immer wieder ausrutschten, und kämpfte bei diesem Anblick mit den Tränen.
    Ava, Godeke und Ehler schafften es mit langsamen Schritten bis zum Ende der Reichenstraße. Hier bogen sie nach links ein und schritten den kleinen, leicht ansteigenden Pfad namens Kattrepel östlich des Doms hinauf, der mit noch unberührtem Schnee bedeckt war.
    Godeke ertappte sich dabei, wie er die Witwe unbemerkt von der Seite betrachtete. Häufig hatte er das in letzter Zeit getan, und immer wieder begeisterten ihn dieselben Dinge. Avas Haut hatte eine außerordentlich reine Blässe, besonders bei dieser Kälte, und ihre Wangen wiesen die gleiche rosige Färbung auf wie ihre Lippen. Die dunklen Augen mit ihren vollen Wimpernkämmen waren die eines jungen Mädchens, und das, obwohl Ava einige Jahre älter war als Godeke. Als sie bemerkte, dass er sie anstarrte, riss er seinen Blick von ihr los.
    Wenige Schritte danach waren sie auch schon bei der Domschule. Der Weg zum Unterrichtsraum war Godeke vertraut, schließlich hatte er Thymmo schon einige Male hier besucht, der ihnen gerade in diesem Moment entgegenkam.
    »Thymmo, du kommst gerade recht!«, stieß Godeke erfreut aus. »Schau, wen wir mitgebracht haben.«
    Die Jungen sahen einander ohne jede Regung an. Es war nicht zu verkennen, dass hier keine Freunde aufeinanderstießen.
    »Hallo, Ehler.«
    »Hallo, Thymmo.«
    Eisiger hätte die Begrüßung nicht ausfallen können.
    In diesem Moment tauchte der Magister hinter ihnen auf, der den heutigen Unterricht leiten sollte. »Ehler, sei gegrüßt. Ich habe dich schon erwartet.«
    Godeke und Ava begrüßten den Magister freundlich.
    Der jedoch wandte sich nach einem knappen Nicken wieder dem Jungen zu. »Wie ich sehe, hast du hier schon einen Freund. Das ist gut, dann könnt ihr euch eine Bank teilen und euch gegenseitig helfen. Und nun verabschiede dich von deinen Eltern, und komm danach in die Klasse!«
    Einen Augenblick später war der Magister auch schon mit seinen Schülern verschwunden.
    Godeke und Ava blickten einander an. Es belustigte und beschämte sie beide gleichermaßen, dass der Magister sie für ein Ehepaar gehalten hatte, doch keiner von beiden sagte etwas dazu.
    »Ich will da nicht rein«, jammerte Ehler.
    »Du wirst sehen, mein Schatz, das Marianum wird dir gefallen«, versuchte Ava ihren Sohn aufzuheitern, ohne ihn bloßzustellen. Sie wusste, wie empfindlich er derzeit war, und sie wollte die richtigen Worte finden. »Außerdem kannst du stolz auf dich sein. Keiner der Jungen aus deiner Klasse hat es dieses Jahr geschafft, hierher versetzt zu werden.«
    »Ich wäre lieber wieder in der Nikolaischule«, gab Ehler leise und weniger frech als noch vor Kurzem zurück.
    »Das ist aber nicht möglich«, schloss Godeke streng. »Hier ist jetzt deine neue Schule. Gewöhne dich dran. Du weißt doch, was ich dir letztens erklärt habe.« Godeke war nach Ehlers Wutausbruch zunächst mild mit dem ungehorsamen Jungen verfahren, doch als er sich nicht beruhigen ließ und unverändert vorlaute Widerworte gab, hatte er ihn zurechtgewiesen, wie es eigentlich nur ein Vater durfte. Zwar wusste er, dass Ehler in den letzten Monaten Schlimmes durchlitten hatte, doch er wusste auch, was passierte, wenn er ihm keinen Respekt beibrachte. Thiderich hätte nicht gewollt, dass Ava unter ihrem Sohn litt – und Godeke wollte das auch nicht.
    »Ich will aber nicht neben Thymmo sitzen. Und auch nicht neben einem der anderen Jungen. Ich bin ein Nikolait und kein Marianer!«
    Godeke schüttelte den Kopf und fasste den Jungen an den Schultern. »Ich sage dir jetzt mal was: Dieser Nikolaiten- und Marianer-Schwachsinn hat jetzt ein Ende. Dies ist deine neue Klasse, und sie warten schon auf dich. Jede Feindschaft ist jetzt besser vergessen. Freunde dich mit den Jungs an. Ich will nichts mehr von den Schuljungenkriegen hören, hast du mich verstanden?« Dann ließ er Ehlers Schultern los.
    »Lerne fleißig, mein Schatz, und mach mich und deinen Vater im Himmel stolz, hörst du?«, sagte Ava. Dann gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn und schob ihn in Richtung der verschlossenen Flügeltür.
    Weder Godeke noch Ava sagten ein Wort, als sie wieder in die kalte Novemberluft hinaustraten. Jeder in seine Gedanken versunken, schritten sie im tiefen Schnee nebeneinander her. Hier, auf den langgezogenen

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