Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
wie sie es immer taten. Ragnhild hatte es so leichter zu gehen, denn ihr Knieleiden plagte sie mit der Zeit immer mehr. Doch man hörte sie niemals klagen.
Sie betraten den Stall und gingen zuerst zur Box der Weißen. Das kleine Fohlen versteckte sich scheu hinter seiner Mutter und ließ sich nicht hervorlocken. Danach schauten sie in die Box der Braunen, deren Fohlen gleich an die Tür kam und neugierig die dargebotenen Hände beschnupperte.
»Sind sie nicht entzückend, Albert? Jedes ist so unterschiedlich und so bezaubernd auf seine Art …«
»Das sagst du immer. Und jetzt wirst du versuchen, mich zu überreden, sie zu behalten, richtig?«
Ragnhild schloss den Mund wieder und schaute ertappt. »Ich weiß jetzt schon, dass ich weinen werde, wenn sie verkauft werden.«
Albert lachte: »Und dabei reitest du noch nicht einmal gern. Komm, lass uns zum Turm gehen. Wie ich Alusch kenne, wartet bereits ein köstliches Essen auf uns.«
Gemächlich schritten sie über die freie Fläche zwischen dem äußeren und dem mittleren Wall, direkt auf die Brücke zu, die zur erhöhten Burganlage führte.
Albert schaute sich um. Sein Blick wanderte die entfernte Baumreihe entlang, die den Anfang des Waldes bildete. Das Tauwetter ließ hier und da ein Licht aufblitzen – herabfallende Wassertropfen in der Sonne, sonst nichts. Und dennoch hatte diese Erscheinung etwas Beunruhigendes. Abermals wünschte er sich, dass der Schnee und somit auch das Tauwasser schnell verschwanden. Lang würde es nicht mehr dauern, hier und da konnte man schon wieder etwas Boden sehen.
»Pass auf, die Brücke ist glatt«, warnte Albert seine Frau, wie er es immer tat, wenn die Witterung das Holz glitschig machte.
Ragnhild konnte diesen Hinweis einerseits nicht mehr hören, doch andererseits liebte sie Albert auch genau dafür: Immer sorgte er sich um seine Liebsten! Sie konnte sich keinen besseren Mann wünschen. Neckend fragte sie ihn: »Würdest du mir etwa nicht hinterherspringen und mich aus dem Wasser ziehen, wenn ich ausrutsche und falle?«
»Du meinst, in den eiskalten Burggraben? Nein, würde ich nicht«, gab Albert lachend zu verstehen.
»Ich höre wohl nicht recht«, empörte sie sich gespielt.
»Weißt du auch, warum ich dich nicht retten würde?«
»Ich habe keine Ahnung. Möchtest du mich vielleicht loswerden?«
»Nein, aber unter der Schnee- und Eisschicht führt der Graben gerade kaum Wasser, und sehr wahrscheinlich kannst du darin stehen.«
Beide fingen an, über ihre kindischen Neckereien zu lachen. Sie ließen die Brücke hinter sich und nickten dem Wachmann zu, der zu den fünf Männern gehörte, die Eccard zurückgelassen hatte. Dann betraten sie den Burgturm, wo ihnen ein verführerischer Duft entgegenschlug.
Alusch hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Bewohner der Riepenburg nach allen Regeln zu verwöhnen, und Albert, Ragnhild, Jons und Erich, der mit seinem alten Hund seit dem starken Schneefall bei ihnen wohnte, wussten das sehr zu schätzen. Dass einer in ihrer Runde fehlte, blieb nicht lange unentdeckt.
»Wo ist Eccard?«, fragte Alusch, die gerade mit den beiden Mägden das Essen auftrug.
»Er ist heute früh fortgeritten. Sicher ist er bald zurück«, ließ Albert verlauten, ohne zu wissen, ob dem wirklich so war. Zu seinem Glück gaben sich alle damit zufrieden.
»Lasst es euch schmecken«, sprach Alusch nach dem Tischgebet und reichte die erste Schale mit Brei herum.
Sie saßen noch nicht lange zusammen, da zog es Albert zur Fensterluke.
»Warum schaust du hinaus, Liebster?«, wollte Ragnhild wissen.
»Ich dachte, ich habe Eccard gehört«, sagte er, während sein Blick erneut den Waldrand absuchte. Diese aufblitzenden Lichter und Eccards Verschwinden machten ihn zunehmend unruhig. Er konnte jedoch nichts Seltsames entdecken und so setzte er sich wieder.
Jons stimmte ein Gespräch über die beiden Fohlen an, in dem er jede Einzelheit der vergangenen Nacht so bildlich erzählte, dass seine Zuhörer meinten, selbst dabei gewesen zu sein. Sie alle hingen an seinen Lippen, so ansteckend war seine Begeisterung für Pferde.
Erich war der nächste, der sie unterhielt. Die Frauen wollten alles über das Kind seiner Enkelin wissen, das vor nicht allzu langer Zeit geboren worden war. Ohne Gnade löcherten sie den armen Mann mit ihren Fragen, bis Albert regelrecht Mitleid bekam.
Als das gemeinsame Mahl sich dem Ende neigte, wollte er den Müller erlösen. »Meine lieben Damen, habt etwas Nachsicht mit unserem
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