Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
doch dass ihm die Hände gebunden waren und sie nun lernen mussten, mit den Umständen zu leben.
Einen Tag später waren ihr Bruder Helprad und ihr Vater Fridericus von Staden zusammen mit Christian Godonis zu ihr gekommen, um über alle Einzelheiten zu sprechen. Ava hatte sich dabei gefühlt wie ein Stück Vieh. Keiner der drei Männer hatte das Wort an sie gerichtet, sie nach ihrem Befinden gefragt oder Thiderich, der nicht einmal ein Jahr lang tot war, auch nur mit einem einzigen Satz erwähnt. Stattdessen wurde hart verhandelt, über die Mitgift, die Brautgabe und ihr Erbe, wie zum Beispiel das Haus, in dem sie wohnte. Dann, als alles gesagt und aufgeteilt war und die Männer sich von Ava hatten fürstlich bewirten lassen, tauschten die Verlobten noch den Verlobungskuss aus. Schnell und wenig herzlich war alles vonstattengegangen. Daraufhin gingen die Männer wieder. Seither war Ava allein mit ihren Söhnen, die die erste Hälfte des Tages stets in der Schule waren und sich die zweite Hälfte des Tages über Avas abwesenden Blick und ihre Wortlosigkeit wunderten. Sie konnten die Gefühle der Mutter nicht verstehen, waren sie doch fast noch Kinder.
Die Tage bis heute hatte Ava wie im Halbschlaf verbracht. Sie fühlte nichts mehr, außer dieser schweren Traurigkeit. Auch wenn sie es mit Christian mit Sicherheit nicht allzu schlecht getroffen hatte und wenigstens diese Tatsache ein klitzekleiner Grund zur Freude gewesen wäre, hallte es immer wieder in ihrem Kopf, s o sollte sich eine Hochzeit nicht anfühlen . Zu viel Tod und zu viele Tränen, die nicht der Freude galten. Ihre Liebe zu Godeke durfte nicht sein, und ihre einstige Freundin Oda hatte sie durch eigene Schuld für immer verloren! Heute würde ihr letzter Tag in diesem Haus sein, wo sie so viele glückliche Stunden mit Thiderich verbracht hatte, und es gab niemanden, der ihr in ihrer Trauer die Hand hielt. Was also sollte ihr Herz jetzt noch erfreuen?
Avas Blick glitt zu ihrem Hochzeitskleid. Noch hatte sie sich nicht getraut es anzuziehen, obwohl es bald so weit war. Doch sie fühlte sich einfach nicht stark genug und wusste auch nicht, woher sie die Stärke gewinnen sollte. Mit dem Überstreifen des Kleides würde sie gleichzeitig alles ablegen, was zwischen ihr und Thiderich noch war. Christian würde seinen Platz einnehmen und die Erinnerung an ihn in den Köpfen der Hamburger mehr und mehr verblassen lassen. Ava hob ihre rechte Hand und öffnete sie. Zum Vorschein kam ein Ring. Es war jener, den sie von Thiderich bekommen hatte. Noch einmal sah sie ihn sich genau an, dann war der Moment gekommen, ihn für immer wegzulegen. Klimpernd fiel er in ein hölzernes Kästchen, Ava klappte den Deckel zu und atmete tief durch. Es war ihr, als verließe sie mit dem Aushauchen ihres Atems jede restliche Stärke, als verlöre sie alle Kraft in den Beinen. Hatte sie eben noch sicher gedacht, der Schrecken ihrer heutigen Hochzeit würde sie lähmen, fiel sie nun doch vor ihrer Bettstatt auf die Knie. Den Kopf in die verschränkten Arme gelegt und diese auf die weißen Lagen gebettet, weinte sie bittere Tränen.
Ava hörte nicht, dass sich die Tür hinter ihr leise öffnete und wieder schloss.
Es war weder Ehler noch war es Veyt, die dort eintraten – es war Oda.
Sie blickte auf die weinende Ava und wider Erwarten rührte der Anblick ihr Herz. Augenblicklich wusste sie, dass ihre Entscheidung, die sie eben unvermittelt getroffen hatte, die richtige gewesen war. Wortlos trat sie an ihre einstige Freundin heran und berührte sie leicht an der Schulter.
Ava schreckte hoch und blickte mit roten Augen in das Gesicht Odas. Hastig wischte sie sich die Tränen von den Wangen und stand auf. »Wie lange stehst du schon dort?«
Oda ging nicht darauf ein. Ihr Blick fiel auf das Hochzeitskleid.
Ava schaute ebenfalls kurz darauf. Dann wusste sie nicht mehr, wie sie sich verhalten oder was sie sagen sollte. Sie setzte sich auf die Bettkante, die Hände mutlos in den Schoß gelegt und den Kopf gesenkt. »Bist du deshalb gekommen? Um dich an meinem Kummer zu erfreuen?«
»Nein, Ava.« Jetzt setzte sich auch Oda. »Deswegen bin ich nicht hier.«
»Weshalb dann?« Avas Stimme klang müde.
»Ich bin hier, weil du heute heiratest.«
Die Witwe sagte nichts. Noch immer konnte sie nicht deuten, was Odas Absicht war. Vielleicht war es aber auch so, dass sie es nicht glauben konnte. Konnte Oda ihr tatsächlich Gutes wollen, nach allem, was sie angerichtet hatte?
»Ich dachte,
Weitere Kostenlose Bücher