Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
etwas, wenn du dich heute grämst.«
»Ich bin froh, dass du da bist.« Ein letztes Mal umarmten sich die beiden. Dann bat Ava: »Bitte, begleite mich nach unten.«
»Das tue ich. Aber nur, wenn du jetzt lächelst.«
»Ich versuche es«, versprach die Braut und ließ sich herunterführen.
Christian stand bereits in der Halle, als Ava die Stiegen hinabschritt. Seinem Gesicht war zu entnehmen, dass er überwältigt war. Mit leicht geöffnetem Mund streckte er die Hand nach ihr aus und sagte vor allen Gästen: »Ihr seht noch viel bezaubernder aus, als ich es die Nacht über in meinen Träumen gesehen habe! Ich freue mich darauf, Euch heute heimzuführen.«
Ava rang sich das Lächeln ab, welches Oda eben verlangt hatte, und schenkte es ihrem gutaussehenden Zukünftigen mit einem scheuen Augenaufschlag. Um sich Mut zu machen, rief sie sich abermals ins Gedächtnis, dass sie es wahrlich hätte schlechter treffen können. Christian galt als gute Partie und zeigte sich zudem gerade sehr zuvorkommend – jedenfalls um einiges höflicher, als bei ihrer Begegnung auf dem Markt. So bemühte sie sich um ein freundliches Gesicht, legte ihre zarte, blasse Hand in seine und ließ sich von ihm hinausführen.
Die kleine Hochzeitsgesellschaft, bloß bestehend aus den Brautleuten, Oda und Godeke, den Eltern Avas, ihren Kindern sowie ihrem Bruder Helprad und dessen Frau, schritt zur Nikolaikirche, in der die Ehe ihren Segen vor Gott erhalten sollte. Hier würde Ava ab jetzt auch die Messe besuchen und nicht mehr in der Katharinenkirche, dessen Kirchspiel sie aufgrund des Standortes ihres Hauses bislang angehört hatte.
Ava war noch nie hier gewesen. Die einstige Kapelle der Schifffahrer sah auf den ersten Blick aus wie jedes andere Gotteshaus. Der Boden war über und über mit Sand und kleinen Steinen bedeckt, die die vielen Füße der Parochianten hineingetragen hatten, und an den rußgeschwärzten Wänden erkannte man noch Reste der langsam darunter verschwindenden Wandmalereien. Das alles hatte nicht gerade eine erhebende Wirkung auf sie. Nein, es war nicht zu leugnen: Wenn man die Kirche mit den Augen einer Frau sah, die in kürzester Zeit so viel Leid erlebt hatte, dass blasphemische Gedanken sie nicht mehr ängstigten, dann erschien sie einem ungastlich und wenig tröstlich. Vielleicht war es der innere Widerwille mit dem sie diesen Tag beging, vielleicht war es aber auch bloß die ungeschönte Wahrheit, dass einzig der Chorraum im Osten, wo das Licht der aufgehenden Sonne hinter dem Altar auszumachen war, hell und einladend erschien.
Eigentlich gab es bloß zwei Dinge in der Kirche, die festlich genug anmuteten, um einer Hochzeit würdig zu sein. Zum einen Ava, in ihrem wunderschönen Kleid, und zum anderen der Gesichtsausdruck des neuen Pfarrvikars der Nikolaikirche. Er war ein junger Mann, der seines Amtes noch nicht überdrüssig war und den es ernsthaft zu erfreuen schien, Ehen zu schließen. Ava war aufrichtig dankbar, dass sie sich heute keine Rede über das Fegefeuer und die Strafen für Ehebruch anhören musste. Ganz im Gegenteil, der Geistliche fand schöne Worte für das Brautpaar, hielt sich jedoch kurz. In Zeiten wie diesen war Überschwänglichkeit unangebracht.
Nachdem die Ringe getauscht und die letzten segnenden Worte gesprochen worden waren, traten Ava und Christian mit ihren Gästen hinaus in die kalte Januarluft. Hier empfingen sie die Glückwünsche ihrer Lieben und die der wenigen Beobachter, welche zufällig des Weges kamen. Es dauerte jedoch nicht lang, da begannen alle zu frieren, denn der Wind zog mächtig an diesem Tage und machte das Draußensein fast unerträglich.
»Lasst uns schnell in mein Haus gehen«, schlug der Bräutigam vor. »Die Mägde halten warmen Würzwein und ein Festmahl zur Feier des Tages bereit.«
»Das klingt wunderbar«, sagte Godeke, der sich unaufhörlich in die hohlen Hände blies, um diese zu wärmen.
Christian bot Ava den Arm, dann aber hielt er noch kurz inne und sprach: »Verzeiht, Gemahlin. Ich meine natürlich unser Haus.«
Bis zu diesem Moment war es Ava tatsächlich gelungen, ihr eisernes und eher aufgezwungenes Lächeln zu halten. Nun lächelte sie das erste Mal freiwillig und von Herzen. Christian machte es ihr leicht mit seiner offenbar neugewonnenen zuvorkommenden Art.
Die zehn Männer, Frauen und Kinder mussten die Kirche bloß rechts herum umrunden und eine kleine Gasse hinablaufen, schon waren sie in der richtigen Straße und standen vor Christians
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