Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
hinterließ der Magd noch einen letzten Gruß. Dann verschwanden die beiden im Getümmel der Straßen.
Auch die Magd ging wieder ihres Weges, doch sie konnte den ganzen Tag an nichts anderes mehr denken als an dieses Mädchen.
6
Thymmo trug dieses Gefühl nun schon seit Tagen mit sich herum. Es war eine Mischung aus Wut und Enttäuschung, aus Ungläubigkeit und Entsetzen. Konnte es wirklich stimmen, was der Scholastikus ihm erzählt hatte? Über all die Jahre hatte er den Ratsnotar blind verehrt. Niemals eine seiner Taten oder Worte angezweifelt. Schließlich war er stets wie ein Vater zu ihm gewesen, und so wie ein Sohn seinen Vater achtet, so hatte Thymmo Johann Schinkel geachtet. Doch was er erfahren hatte, verwirrte ihn. War das Wesen seines Mentors tatsächlich so fehlerhaft?
Zusätzlich verwirrten ihn die Gefühle, die er für Beke empfand. Eigentlich wollte er sich nicht ablenken lassen, seine Aufgaben waren ihm stets so wichtig gewesen, und doch war gerade nichts wichtiger für ihn als dieses Mädchen.
Das erste Mal in seinem Leben wurde ihm bewusst, was es hieß, ein Domherr zu werden. Entschied er sich für diesen Weg, würde es keine Beke mehr geben, keine Berührungen, keine süße Heimlichkeit. Konnte er darauf wirklich verzichten?
Gedankenversunken schritt Thymmo durch den Bereich der Domimmunität. Er musste nachdenken und wollte alleine sein. Zuerst hatte er den Mariendom ein paar Mal umrundet, war dann den Kattrepel hinaufgelaufen und am äußersten Rand der Kurien am Heidenwall entlangspaziert. Als er bei der Obermühle ankam, hielt er kurz inne. Sein Blick heftete sich an die vielen Mühlräder, wie sie sich unaufhörlich und gleichmäßig drehten und dabei Wasser mit jenem unvergleichlichen Geräusch schöpften. Überall liefen Männer umher und taten ihre Arbeit. Thymmo sah einen, der die ankommenden Getreidesäcke und die ausgehenden Mehlsäcke kontrollierte, und einen, der das Auffüllen der Mattenfässer und Trichter beaufsichtigte. Dazwischen arbeiteten Dustfeger, die das herumliegende Mehl zusammenkehrten.
Als kleiner Junge war er oft mit Johann Schinkel hier gewesen, der schnell gemerkt hatte, dass ihn diese Mühle faszinierte. Sie waren vor allem dann hierhergekommen, wenn Thymmo seine Eltern mal wieder vermisste. Nie könnte er vergessen, wie liebevoll der Ratsnotar stets versucht hatte, ihn abzulenken. Nun war er jedoch kein Kind mehr, und obwohl ihn das Geschehen an der Mühle noch immer fesselte, sah er heute noch etwas anderes, als riesige Mühlräder oder umherwirbelndes Mehl. Thymmo sah die Männer und fragte sich, ob er nicht selbst einer von ihnen sein konnte. Ein einfacher Mann, der mit harter Arbeit sein Brot verdiente und des Abends heimkehrte zu Frau und Kindern. Kein Mitglied des Domkapitels, sondern ein Gemahl und Vater. Vielleicht war es kein schlechtes Leben – fern von Büchern und Schreibfedern, von Gesang und Gebet.
»Ich habe gewusst, dass ich dich hier finde«, ertönte es plötzlich hinter ihm.
Thymmo drehte sich nicht um. »Ihr sucht mich?«, fragte er den Ratsnotar tonlos.
»Willst du reden?«
»Ich wüsste nicht worüber.«
»Halte mich nicht zum Narren, Thymmo. Seit dem Vorfall in der Schreibstube gehst du mir aus dem Weg. Du hast keine drei Worte mit mir gewechselt. Soll das jetzt für immer so weitergehen?«
Thymmo wandte sich dem Ratsnotar zu und blickte in jenes Gesicht, das in der Vergangenheit immer Vertrauen für ihn ausgestrahlt hatte. Jetzt war es eher Unsicherheit, die das Antlitz bewirkte – ein Gefühl, das ihn irritierte, so schaute er lieber wieder auf die Mühle und ihre Männer. Niemand schenkte ihnen Beachtung.
»Ist es wirklich so unverständlich für dich, dass ich dir den Umgang mit Beke verwehre? Kannst du denn überhaupt nicht verstehen, was du dir damit kaputt machst? Dein Leben geht nun mal andere Bahnen …«
»Ja, die Euren, nicht wahr?«, ergänzte Thymmo mit gleichbleibender Stimme.
»Was willst du mir damit sagen? Habe ich nicht immer alles getan, damit du es eines Tages gut hast?«
Nun fuhr Thymmo wütend herum. »O ja, das habt Ihr – und sogar noch darüber hinaus! Ihr habt mich glauben lassen, ich sei etwas Besonderes, obwohl das nicht wahr ist.«
»Wovon redest du?«, fragte der Ratsnotar verwirrt. »Du bist etwas Besonderes, auf jeden Fall für mich!« Johann Schinkel wollte seinen Sohn am liebsten bei den Schultern packen und ihn zwingen, ihm ins Gesicht zu sehen, so sehr meinte er, was er sagte. Doch er
Weitere Kostenlose Bücher