Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Ehler auf diese Weise zu Macht kam. Obwohl er nun sein eigenes Wort zurücknehmen musste und das eine Schande für ihn bedeutete, erhob er sich und bat um Ruhe. »Werte Ratsherrn. Hört mich an!« Es dauerte einen Moment, bis er sich Gehör verschafft hatte, aber als ihm die Aufmerksamkeit der Männer gewiss war, blickte er seinem einstigen Schüler ins zufrieden lächelnde Gesicht. »Ehler.«
Die eben noch zufriedene Miene des Domherrn wurde steinern, als ob er etwas ahnte.
»Es tut mir leid, aber ich muss meinen Vorschlag wieder zurücknehmen.«
»Was?«, entwich es ihm.
Dann richtete der Scholastikus sein Wort an den Erzbischof. »Ich, als einstmals größter Befürworter Ehlers, bitte Euch heute, macht Eure Entscheidung rückgängig.«
»Nein! Was tut Ihr …?«, stieß Ehler verblüfft aus und eilte zu seinem einstigen Lehrmeister. »Ist es nicht das, was wir immer gewollt haben?«
»Ehler!«, ließ der Scholastikus streng verlauten. »Wir wollen nicht das Gleiche. Du kannst alte Feindschaften nicht vergessen. Die Marianer sind im Herzen noch immer deine Rivalen. Nie hast du aufgehört, die Schuljungenschlachten zu kämpfen – selbst jetzt nicht, wo du sie längst alleine kämpfst. Ich kann einfach nicht zulassen, dass du Magister wirst und den alten Streit wieder aufleben lässt.«
»Ihr fallt mir in den Rücken? Ausgerechnet Ihr? Ich glaube es nicht … Ihr wart wie ein Vater für mich …«
»Dann höre jetzt auf deinen Vater«, sprach Johannes von Hamme wie mit einem Kind. »Dein Geist ist krank. Ich kann mich nicht mehr für dich verbürgen.«
Nachdem die Worte des Schulmeisters verklungen waren, lag der Platz zwischen den Bäumen des Kunzenhofs in Stille da. Es war sogar so still, dass man das Rascheln des Kleides von Ava Godonis hören konnte, die aus dem Kreis der zuschauenden Bürger langsam in die Runde der Herren schritt und mit einer Mannslänge Abstand vor Ehler zum Stehen kam.
Christian schaute seinem Weib ungläubig hinterher. Was tat sie da?
»Ich weiß es, mein Sohn«, sagte sie mit bebender Stimme.
»Ihr wisst was, Domina Ava?«, fragte Werner von Metzendorp, der zweite Bürgermeister, mit sichtlichem Erstaunen.
Sie achtete gar nicht auf den Mann neben sich, denn sie hatte nur Augen für Ehler. Ihr Erstgeborener sah sie mit einem Blick an, der keinen Zweifel daran ließ, dass er wusste, wovon sie sprach. Seit dem Tage des Weihefestes trug Ava ihre Vermutung nun schon mit sich herum. Nie hätte sie geglaubt, je den Mut zu haben, ihr ältestes Kind auszuliefern. Und doch stand sie jetzt hier und sagte vorsichtig: »… wie du dich am Brunnen gewaschen hast …«
Jetzt sprang der Domherr auf und schrie: »Schweig gefälligst, du sündiges Weib!«
Ava wich in wohlweislicher Voraussicht etwas zurück. Es war wieder da – sie hatte es geahnt! Jede Herzlichkeit war aus dem Gesicht ihres Sohnes verschwunden. Seine reuevollen Worte damals im Garten waren nicht echt gewesen. Die erschütternde Wahrheit lautete: Er hasste sie, und sie hatte sich etwas vorgemacht. »Du bist es gewesen, nicht wahr? Du hast das Messer mit deiner rechten Hand geführt. Sein Blut klebte noch unter deinen Nägeln.«
Anders als eben noch war seine Stimme jetzt mehr ein leises Fiepsen. »Schweig! Schweig doch endlich!« Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass ihn seine Mutter, die ihn doch so grenzenlos liebte, überführen würde.
»Gib es zu, mein Sohn. Es war nicht Thymmo. Du hast seine Flöte dort im Garten zurückgelassen, ist es nicht so?« Langsam ging sie wieder näher an ihn heran, bis sie dicht vor ihm stand. Auge in Auge. Mutter und Sohn. Ava traute sich nicht, ihn zu berühren, aber ihre Stimme wurde sanft. »Der Scholastikus hat recht, du kämpfst noch immer gegen die Marianer, wie auch Thymmo einer ist, aber diese Kämpfe gibt es nur noch in deinem Kopf.«
Jetzt waren es bloß noch seine Lippen, die sich bewegten und die Worte, schweig doch , formten.
»Ist es wahr, was deine Mutter sagt?«, fragte der Scholastikus tonlos. Langsam ging auch er auf Ehler zu. »Antworte mir!«, forderte er weiter. Doch es kam nichts von ihm.
Ehler fixierte einen Punkt auf dem Boden.
Stattdessen sagte Ava zu den Bürgermeistern: »Schaut in den Brunnen der Kurie. Da ist das Messer.« Dann blickte sie Ehler ein letztes Mal an. Plötzlich traute sie sich doch, ihm kurz die Hand auf die Wange zu legen, dann wandte sie sich für immer von ihrem Sohn ab, der bereits von zwei Männern ergriffen worden war. Bei
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