Das Vermächtnis des Rings
Wir sind doch schließlich keine Gefangenen.«
»Seit Jahrtausenden ist dieser Gang verschlossen«, stieß sie hervor. »Glaubst du, Harlin wird es so einfach zulassen, dass wir ihn öffnen? Wenn das Siegel gebrochen ist, besteht die Gefahr, dass andere auf diesem Weg nach Ai’Bon gelangen, und das wird er unter allen Umständen verhindern wollen. Beeil dich, sonst sind wir bald wirklich Gefangene!«
Erschrocken wollte Aylon sich wieder dem Siegel zuwenden, doch im gleichen Moment kamen die ersten Eiben in die Grotte gestürmt. Wie erwartet führte Harlin sie an.
»Aufhören!«, rief er mit gellender Stimme. Seine Augen waren vor Schrecken weit aufgerissen. »Das dürft ihr nicht tun. Ich lasse es nicht zu.«
»Wir wollen nur unsere Freiheit«, rief Shylena zurück. »Ihr habt kein Recht, uns auf Ai’Bon festzuhalten.« Sie zückte ihr Schwert und nahm eine drohende Haltung an. »Wenn ihr uns aufhalten wollt, dann müsst ihr mich schon töten.«
»Was redest du da? Bist du völlig von Sinnen?« Harlin trat näher. Rund ein Dutzend weitere Eiben befanden sich in seiner Begleitung. »In der ganzen Geschichte unseres Volkes hat noch niemals ein Elb einen anderen getötet.«
»Irgendwann gibt es für alles ein erstes Mal«, fauchte Shylena. »Ich warne dich, komm nicht näher!«
Tatsächlich blieb Harlin abrupt stehen. »Bitte, Aylon, ihr dürft das Siegel nicht brechen. Es würde den Untergang unseres Volkes bedeuten, wenn jeder ungehindert nach Ai’Bon gelangen könnte. Kommt doch zu Vernunft. Wir wollen euch nicht gefangen halten. Bestimmt finden wir eine andere Möglichkeit, wie ihr die Insel verlassen könnt.«
»Lass dich nicht von ihm beirren!«, rief Shylena. »Er lügt, denn er weiß so gut wie wir, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Öffne endlich das Tor!«
»Nein, tu es nicht!«, beschwor Harlin ihn eindringlich. Er wollte einen weiteren Schritt nach vorne machen, doch schien ein unsichtbares Hindernis ihn aufzuhalten.
Mit einem Mal begriff Aylon. Der Eibenkönig war nicht wegen Shylenas Drohung stehen geblieben, sondern weil genau an dieser Stelle, hoch über ihren Köpfen, der See endete. Da es den Eiben unmöglich war, Festland zu betreten, konnten sie nicht weiter vordringen.
»Du kannst nichts mehr tun, um uns aufzuhalten«, sagte Shylena triumphierend. Sie steckte ihr Schwert in die Scheide zurück.
Der Eibenkönig schüttelte den Kopf. Ein verzweifelter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. »Ich hatte gehofft, dass wir uns irgendwie einigen könnten, aber wie ich sehe, bist du zu verblendet dazu. Nun lässt du mir keine andere Wahl mehr.«
Harlin machte eine Geste in Richtung seiner Begleiter. »Larkon, töte den Magier!«
Mit gespanntem Bogen trat der Angesprochene zwischen den anderen Eiben hervor und überschritt ungehindert die unsichtbare Grenze. Er legte auf Aylon an.
»Nein!«, schrie Shylena. Gehetzt blickte sie sich um. Larkon stand zu weit von ihr entfernt, als dass sie ihn hätte erreichen können, bevor er seinen Pfeil abschoss.
Aylon entschloss sich, alles auf eine Karte zu setzen. Wieder griff er mit seinen magischen Kräften nach dem Siegel, packte eine der Linien und riss daran. Ein greller Blitz durchzuckte ihn und ließ ihn vor Schmerzen schreiend auf die Knie sinken, aber seine Verzweiflungstat hatte Erfolg. Er verformte das Siegel so stark, dass es seine Kraft verlor und die scheinbar massive Felswand sich auflöste.
Im gleichen Moment ließ Larkon seinen Pfeil fliegen. Mit einem kräftigen Sprung hechtete Shylena zur Seite, direkt in die Schusslinie. Der Pfeil traf ihren Leib dicht unterhalb der Brust und bohrte sich tief in ihren Körper.
Plötzlich waren unzählige dunkle Gestalten um Aylon herum, doch der Schmerz trübte seinen Blick so sehr, dass er erst nach einer ganzen Weile voller Entsetzen erkannte, dass es sich um Duuls handelte, und es dauerte noch einmal Sekunden, bis er erkannte, woher sie so plötzlich kamen. Dutzende, nein, hunderte der gnomartigen Kreaturen kamen durch das geöffnete Tor in die Grotte gestürmt. Ohne ihn oder Shylena zu beachten, stürzten sie sich mit lautem Geschrei auf Harlin und seine Begleiter.
Benommen vor Schmerzen und Entsetzen über das, was er ungewollt angerichtet hatte, kroch Aylon auf Shylena zu. Dort, wo der Pfeil sie getroffen hatte, breitete sich ein rasch größer werdender Blutfleck auf ihrem Gewand aus.
»Shylena«, krächzte er. »Das… das habe ich nicht gewollt.«
»Ich weiß«, antwortete sie mit
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