Das Vermächtnis von Thrandor - Der Pfad der Jägerin
und lauschte mit rasendem Herzen, wie sich seine Schritte entfernten. Als sie die Tür ins Schloss fallen hörte, sah sie sich um, ob Calvyn auch wirklich weg war, und brach dann erneut in Tränen aus. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie den Mann, den sie liebte, so vor den Kopf gestoßen hatte. »Warum bringe ich nicht den Mut auf, ihm meine Gefühle zu gestehen?«, stöhnte sie, am Boden zerstört. »Ist doch klar: Weil ich es nicht ertragen könnte, abgewiesen zu werden.«
Je mehr sie im Laufe des Tages darüber nachdachte, desto schlimmer erschien ihr das Ganze. In der folgenden Nacht machte sie fast kein Auge zu. Unablässig grübelte sie darüber nach, was sie hätte sagen sollen. Und wenn sie dann doch einnickte, träumte sie schlecht.
Diejenigen, die nicht als Kundschafter für die von Baron Keevan und Lord Valdeer angeordneten Spähkommandos abgestellt waren, nahmen am nächsten Tag die Waffenübungen wieder auf. Jenna war von ihren Trainingsaufgaben entbunden worden mit der Auflage, ihre Fertigkeiten am Schwert zu verbessern. Sie sollte daher mit den Rekruten den Schwertkampf üben. Dort hatte sie es nicht mit Calvyn zu tun, der einen der Spähtrupps leitete, sondern mit Bek, und der ordnete Jenna für das Zweikampftraining ausgerechnet Eloise zu.
Jenna merkte bald, dass Eloise nicht nur unglaublich attraktiv war, sondern auch hervorragend mit der Klinge umgehen konnte. Die beiden Frauen passten folglich als Trainingspartner sehr gut zusammen. Jenna war entschlossen, Eloise eine Lektion zu erteilen, doch die Rekrutin bewegte sich mit einer Eleganz und einem Gespür, die ihren Mangel an Ausbildung und Erfahrung Lügen straften. Egal,
wie Jenna sich auch bemühte, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen – Eloise konterte stets mit Gegenangriffen, die Jenna nur mit größter Mühe abwehren konnte.
Nach dem Training war Jenna froh, mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Bek war keine Hilfe gewesen, denn er hatte Eloises Stil und Technik ausgiebig gelobt und Jenna musste mit ansehen, wie er und die anderen Männer um den Neuzugang herumscharwenzelten.
Die beiden Frauen gingen nach dem Training miteinander zum Mittagessen. »Guter Kampf, Jenna. Danke«, sagte Eloise. Ihre aufrichtige Anerkennung brachte Jenna zur Weißglut.
»Bitte schön, Eloise. Gern geschehen«, erwiderte sie und versuchte vergeblich, ihre Stimme freundlich klingen zu lassen.
»Habe ich dir was getan, Jenna? Wenn ja, dann versichere ich dir, dass es keine Absicht war.«
Jenna biss die Zähne zusammen. Ist das unfair, dachte sie, sie ist auch noch richtig nett.
»Nein, Eloise, hast du nicht«, erwiderte sie, um Fassung ringend. »Aber sag mir eins: Was hältst du von Korporal Calvyn?«
»Ach, der ist nett. Ganz natürlich und … Moment mal!« Eloise blieb wie angewurzelt stehen und Jenna mit ihr.
»Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mich an den Korporal heranmache?«, fragte Eloise empört.
Jenna errötete, und ihr schwante, dass sie den nächsten Bock geschossen hatte. Sie hob beschwichtigend die Hand.
»Entschuldige, Eloise, wenn ich mich getäuscht habe. Es hat nur gestern so ausgesehen. Wenn dir an Calvyn nichts liegt, dann vergib mir bitte meine blühende Fantasie.«
»Vergeben«, erwiderte Eloise kurz. »Aber ehrlich gesagt, wusste ich gar nicht, dass du und Calvyn …«
»Sind wir auch nicht«, murmelte Jenna verlegen und sah sich rasch um, ob jemand sie hören konnte. »Ich will es mal so sagen: Ich würde meine Freundschaft zu Calvyn gerne etwas vertiefen, aber er ist ein bisschen langsam von Begriff, was das betrifft.«
Eloise lachte. »Aha, dann ist er wohl von der unschuldigen Sorte. Keine Sorge, Jenna, ich habe es nicht eilig, mir einen Mann zu angeln. Calvyn ist im Moment vor mir sicher. Allerdings kann ich nicht versprechen, dass es immer so sein wird. Wer weiß, was die Zukunft für uns bereithält? Aber hier gäbe es ja wahrlich genug fesche Männer, falls ich auf so etwas aus wäre«, sagte sie und nickte zu Bek hinüber, der in ein Gespräch mit seinen Freunden vertieft war. »Calvyn ist natürlich besonders knackig …«, fügte sie mit einem verschmitzten Lächeln hinzu.
Jenna knurrte scherzhaft und knuffte Eloise in die Rippen. »Weißt du, Eloise, das Leben ist manchmal einfach ungerecht.«
»Ach ja? Und warum?«
»Ich bin jetzt seit über einem Jahr mit Calvyn befreundet, und er hat mich noch nie so angesehen, wie er dich gestern angesehen hat.«
Eloise blitzte sie mit ihren
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