Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
Gefährten überwinden, und auch die dunklen Wolken, die sich am Himmel zusammenzogen und ein baldiges Unwetter verhießen, durften sie nicht aufhalten.
    Während Cassandra und Farid mit den Lasttieren ein kurzes Stück vorausritten, lenkte Rowan sein Tier neben Bruder Cuthbert her. Wann immer es sich einrichten ließ, mied er Cassandras Nähe aus Furcht, sich zu verraten. Stattdessen hielt er sich an seinen Meister, nicht zuletzt, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Denn er hatte Cuthbert nicht gesagt, dass Cassandra erneut in fränkischer Zunge gesprochen hatte, mehr noch, dass ihr die Sprache seit jener Nacht am See immer geläufiger zu werden schien, als wäre sie ein Teil ihrer verschütteten Vergangenheit, der nun aufbrach.
    Zu gerne hätte Rowan seinem Meister diese verblüffende Entwicklung offenbart. Doch es gab zwei Gründe, die ihn daran hinderten: Zum einen hätte er dem alten Cuthbert dann auch gestehen müssen, was in jener Nacht am See geschehen war; zum anderen hatte Cassandra selbst ihn um Stillschweigen gebeten, weil sie zunächst selbst darüber Gewissheit erlangen wollte, wer sie war und woher sie kam.
    Rowan hatte eingewilligt, leichtgefallen war es ihm jedoch nicht.
    Fraglos war sie das bezauberndste Geschöpf, dem er je begegnet war, und er brauchte nur an sie zu denken, um ein nie gekanntes Glücksgefühl zu verspüren. War es das, was die Dichter meinten, wenn sie von Liebe und Leidenschaft sangen, von der magisch anmutenden Anziehung zwischen Mann und Frau? Andererseits war da Rowans mönchische Erziehung, die bis in seine frühe Jugend reichte und die ihm sagte, dass es falsch war, was er tat; und zu seiner eigenen Verwunderung ertappte er sich dabei, dass er sich gegenüber Bruder Cuthbert verpflichtet fühlte. Warum bei allen Heiligen konnte der alte Benediktiner nicht so sein wie all die anderen Meister, denen Rowan in seinem Leben gedient und denen gegenüber er niemals auch nur einen Funken Loyalität verspürt hatte? Es hätte die Dinge um vieles einfacher gemacht.
    »Weißt du, Junge«, sagte Cuthbert irgendwann, nachdem sie eine endlose Weile lang wortlos nebeneinanderher geritten waren, »ich bin stolz auf dich.«
    »Was?« Rowan, jäh aus seinen Gedanken gerissen, horchte auf.
    »Als ich damals in Ascalon den carcer betrat«, erklärte Cuthbert, »da habe ich drei Dinge bei dir gesehen.«
    »Was für Dinge?«, fragte Rowan verwirrt.
    »Trotz«, gab der alte Mönch zur Antwort. »Bitterkeit. Und Selbstmitleid.«
    Rowan nickte. Hätte Bruder Cuthbert ihm das damals gesagt, wäre er vermutlich mit geballten Fäusten auf ihn losgegangen. Rückblickend musste er seinem Meister wieder einmal recht geben.
    »Und – was seht Ihr jetzt?«, fragte er leise.
    »Ich bin mir nicht sicher«, entgegnete Cuthbert lächelnd, »denn deine Gedanken vermag ich schließlich nicht zu lesen. Aber ich merke, dass du dabei bist, das Leben neu für dich zu entdecken. Ich sehe eine Neugier, die zuvor nicht da war; Freude am Erfahren neuer Dinge, wo zuvor nur Furcht war; Selbstvertrauen, wo zuvor nur Zorn war. Und ich sehe Sünde.«
    »Was?« Rowan schaute seinen Meister entsetzt an, doch der blickte weiter geradeaus zum Horizont.
    »Ich mag alt sein, mein Junge, aber meine Augen sehen in der Tat noch gut. Gut genug jedenfalls, um zu erkennen, was vor sich geht.«
    »Und was geht vor sich?«, fragte Rowan leichthin.
    Nun wandte sein Meister doch das Haupt, und der Blick, den er ihm schickte, war nicht so sehr vorwurfsvoll als vielmehr traurig. »Das habe ich nicht verdient, Junge«, sagte er. »Vom ersten Augenblick an, da wir uns trafen, habe ich dich mit Respekt behandelt, weil ich der Ansicht bin, dass alle Kinder Gottes einander mit Rücksicht und Achtung begegnen sollten. Nichts anderes erwarte ich von dir.«
    Rowan blickte zu Boden und verwünschte sich für seine vorlaute Zunge. »Verzeiht, Meister. Ich hatte nur nicht damit gerechnet …«
    »Was? Dass ich euch auf die Schliche kommen würde? Dass es nicht auffallen würde, wenn ihr euch stets zur selben Zeit aus dem Lager schleicht?«
    Unwillkürlich schaute Rowan nach vorn, wo Cassandra den letzten Anstieg zum Hügelgrat hinaufritt. Einmal mehr musste er sich zwingen, den Blick wieder von ihr zu wenden. »Es … es war nicht geplant, Meister«, gestand er kleinlaut. »Es ist einfach geschehen, damals in jener Nacht am See.«
    »Damals? Willst du mir erzählen, dass es bei diesem einen Mal geblieben ist?«
    Rowan atmete tief ein und aus,

Weitere Kostenlose Bücher