Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
genauso breit und schlich meist barfuß herum. Aber Siri sagte nichts. Vielleicht war Irma weicher geworden. Vielleicht waren das Tirilieren und Kuchenprobieren und die roten Punkte der Anfang eines unkomplizierteren Verhältnisses zwischen ihnen, wer weiß? Vielleicht wäre Irma nun sogar bereit, über Jennys Ernährung und Alkoholgenuss zu diskutieren.
Das alles ging Siri durch den Kopf, während sie am Küchentisch saß und eiskalten Rotwein trank. Das Handy lag in ihrer Hand, sie musste unbedingt Jon anrufen, und sie hoffte, Irma bliebe noch eine Weile weg und käme erst zurück, wenn Siri das Babyfon wieder eingeschaltet hatte.
Irma liebte das Babyfon.
»Es ist wichtig, auf Jennys Laute zu horchen«, sagte sie, bevor sie ging. »Vielleicht bekommt sie keine Luft. Vielleicht ruft sie um Hilfe. Vielleicht kratzt sie sich die Haut auf.«
Siri nickte.
»Aber wenn du nur normale Geräusche hörst, lässt du sie in Ruhe. Renn bloß nicht dauernd zu ihr hoch. Das stört sie nur.«
Siri nickte noch einmal. Sie hätte gern gefragt, was Irma unter normalen Geräuschen verstand, ließ es aber bleiben. Bloß nicht die gute Stimmung verderben. Nichts sagen, was als spöttisch aufgefasst werden könnte.
Es war Anfang September. Jenny lag fast nur noch im Bett, außer wenn Irma sie wusch und ihr frische Kleider anzog, sie die Treppe heruntertrug (wie einen kleinen Pfau) und sie in die Küche schob. Omelett um eins.
Siri starrte das Babyfon an. Wenn man es ausschaltete, wurde es ganz still im Zimmer, man hörte nur noch das Brummen des Kühlschranks. Siri sah sich um. Der grüne Kühlschrank brummte. Ja, ich höre dich. Du brummst schon seit dreißig Jahren. Ansonsten war es ganz still. Der Tisch war still. Die Stühle. Boden und Decke. Sie sah aus dem Fenster. Die Sommerferien der Kinder waren vorbei, auch dieses Jahr war keine Rede davon gewesen, den Sommer in Mailund zu verbringen, nicht in der jetzigen Situation, Siri schlief in dem Zimmer über dem Restaurant. Sie hatte Pepper fast die gesamte Verantwortung übertragen, der gern einen weiteren Sommer am Meer verbrachte, und so pendelte sie selbst jede Woche zwischen Mailund und dem Reihenhaus in Oslo.
Das Babyfon sah aus wie ein kleines Radio, das Gegenstück auf Jennys Nachttisch ähnelte hingegen einem nicht näher zu identifizierenden Tier mit breit lächelndem Gesicht – einer Ratte vielleicht oder einer Katze oder einem Häschen oder irgendetwas dazwischen. Siri schenkte sich noch ein Glas Rotwein ein. Sie hatte mit Irma über den Einsatz des Babyfons sprechen wollen. War es nicht ein Eingriff in Jennys Privatleben, es auf ihren Nachttisch zu stellen? Konnte ihre Mutter mit ihren Sterbegeräuschen nicht allein gelassen werden? Und war es nicht eine Infantilisierung, einen Menschen, der seine Selbstständigkeit stets verteidigt hatte, so zu überwachen? Siri trank das Glas leer und wählte Jons Nummer. Sie freute sich nicht. Er nahm nicht ab, also schickte sie ihm eine SMS und fragte, wie es zu Hause aussehe, darauf antwortete er sofort.
Ganz schrecklich.
Was ist los?
Alma hat ein Mädchen aus der Parallelklasse geschlagen.
Siri las die SMS und rief noch einmal bei Jon an. Er nahm nicht ab. Sie schrieb:
Könntest du bitte rangehen! Was ist los?
Ein paar Sekunden später piepte ihr Handy. Jon war dran. Sie hörte sofort, dass er getrunken hatte.
»Was ist los?«
»Hm, willst du es wissen?«
»Jon. Hör auf. Was ist los?«
»Okay. Hier kommt’s: Alma hat ein Mädchen aus der Parallelklasse geschlagen. Sie haben sich anscheinend heftig geprügelt. Ich weiß nicht, warum. Den Zeugen zufolge hat Alma angefangen. Das andere Mädchen, Mona Haugen heißt sie und geht in die 10a, hat Nasenbluten bekommen. Es war wohl alles voller Blut. Das Gesicht. Die Hände. Der Schulhof.«
»Wie geht es Alma?«, fiel Siri ihm ins Wort.
»Unverletzt. Nicht einen Kratzer. Aber sie wurde natürlich von der Schule verwiesen. Wann kommst du nach Hause?«
Siri starrte auf die Weinflasche. Sie hatte zwei Gläser getrunken.
»Ich fahre noch heute Abend. Ich komme, so schnell ich kann. Wie geht es Liv?«
»Liv geht es gut. Sie ist heute bei einer Freundin. Laura. Lauras Mutter hat eine SMS geschickt und gefragt, ob Liv mit zu ihnen kommen kann, Liv und Laura hätten so schön zusammen gespielt, alles war so nett.«
»Wie schön.«
Sie schloss die Augen.
»War sonst noch was?«, fragte sie.
Ihr fiel auf, dass er zögerte.
»Ja …«
Sie hörte, wie er versuchte, sich
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