Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Picknickkorb für Alma und Simen. Brote, Apfelkuchen und Saft. Liv durfte nicht mitkommen. Sie war noch zu klein.
»Geht nicht zu nah an den Waldsee«, sagte Siri zu Alma.
»Nein, nein«, sagte Alma. »Das tun wir nicht.«
»Und pass gut auf Simen auf«, sagte Siri. »Lass nicht zu, dass er wegläuft und du ihn aus den Augen verlierst.« Dann strich sie Simen über die Haare und sagte: »Hallo, Simen, wie geht’s dir heute?«
»Gut«, murmelte Simen.
Alma verdrehte die Augen. Dass ihre Mutter sich immer einmischen musste.
»Ich bin seine Babysitterin«, flüsterte sie. »Immer mischst du dich ein.«
Dann gingen Alma und Simen in den Wald und aßen am Waldsee ihr Picknick. Dort konnte man sogar baden, man musste sich nur vor den Seerosen in Acht nehmen, und Alma erzählte Simen, wie Syver vor vielen Jahren hier irgendwo ertrunken war, dann goss sie ihren roten Saft ins Wasser. Sie mochte keinen roten Saft. Wie oft hatte sie ihrer Mutter schon gesagt, dass sie roten Saft nicht mochte. Sie mochte gelben Saft. Keinen roten. Roter Saft schmeckte wie Kotze. Aber – und davon sagte Alma nichts zu Simen – ihre Mutter hörte ihr nicht zu. Siri hörte nie zu, wenn Alma etwas sagte. Siri wünschte sich ganz bestimmt, Alma nie bekommen zu haben (dachte Alma). Oder? Alma blickte über den See. Simen setzte sich ganz dicht neben sie, und sie erzählte ihm von Syver, und mit der Zeit entwickelte sich die Geschichte zu einem richtigen Märchen. Es gefiel ihr, dass Simen zuhörte, dass er sich an sie schmiegte. Vielleicht war die Sache mit ihrer Mutter, die Alma nicht haben wollte, doch komplizierter?
Die Mutter sagte niemals nein, wenn Alma nachts zu ihr kam. Sie wurde nicht wütend. Die Haut der Mutter, die Küsse der Mutter. Die Mutter, die sie tröstete und ihr den Bauch streichelte und flüsterte, es war nur ein Traum, Alma, Träume setzen sich im Körper fest, und man braucht etwas Zeit, um sie zu vertreiben, aber sie sind nicht real, sie sind kein Zeichen.
Doch tagsüber war sie am liebsten mit ihrem Vater zusammen, wenn sie schon mit einem von ihnen zusammen sein musste.
Als Alma kleiner war, durfte sie in Jons Arbeitszimmer sitzen, mucksmäuschenstill, und entweder ein Buch lesen oder am Computer spielen (solange der Ton aus war). Papa sagte oft, ihre Anwesenheit im Zimmer helfe ihm beim Schreiben. Hin und wieder unterhielt er sich mit ihr, erzählte ihr, was er dachte oder schrieb, stellte ihr Fragen und bat sie um Rat.
»Komme ich in dem Buch vor?«, hatte sie einmal gefragt.
»Du nicht, aber ein kleines Mädchen, das dir ein bisschen ähnlich ist, das aber nicht deine Stärke und deine Fähigkeiten hat«, antwortete Jon, unterbrach sich dann aber selbst. »Nein, Alma. Sie ist überhaupt nicht wie du. Das Mädchen im Buch habe ich mir ausgedacht.«
»Komische Arbeit, die du da hast«, sagte Alma. »Ich verstehe den Sinn nicht ganz.«
Als Alma noch jünger war, in Livs Alter vielleicht, spielte sie gern mit dem Puppenhaus und den Puppenmöbeln und den kleinen Puppen, die Ola für Mama geschnitzt hatte, als sie noch klein war und niemand mit ihr reden wollte wegen der Sache mit Syver. Alma saß still auf dem Boden, möblierte das Haus und verteilte die Puppen in den verschiedenen Zimmern. Es waren sieben Puppen, vier Erwachsene, zwei Kinder und ein Baby. Alma fragte sich, wer die vier Erwachsenen waren. Wenn die eine Frau, die mit dem blauen Pullover und der gelben Schlaghose, die Mutter war und der Mann mit dem roten Pullover und der blauen Schlaghose der Vater, wer waren dann die beiden anderen – die ein Kleid und einen Anzug trugen?
»Das sind Freunde der Familie«, sagte Papa. Dann fügte er hinzu: »Wenn du hier sein willst, musst du mucksmäuschenstill sein.«
»Wer hat die Puppenkleider genäht? Die Frau von dem Ola, der die Puppen geschnitzt hat?«
Jon seufzte.
»Ich habe keine Ahnung, Alma.«
Liv hatte sich nie für das Puppenhaus, die Puppenmöbel und die Puppen interessiert. Liv hüpfte und tanzte, lächelte und lachte, und die hellen Locken glänzten, wo immer sie war. Was glänzt und glänzt und wird nie eine Prinzessin? Sie war der reinste Sonnenschein, sagten alle, die sie kennenlernten.
M it zehn kam Alma auf eine neue Schule. Sie fand sich nicht zurecht, hatte keine Freunde, spielte in der Pause nicht mit anderen Kindern, saß allein in einer Ecke des Schulhofs oder schloss sich auf der Toilette ein. Das mache nichts, sagte Alma, sie sei am liebsten allein, wolle nicht mit anderen
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