Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
konnte es vorkommen, dass Alma erneut Sachen mit in die Schule nahm und versuchte, sie zu verschenken, oder dass sie sich auf andere Weise »in eine Situation brachte, die Mitschüler zu einem kränkenden Verhalten verleitete«, wie es der Sozialpädagoge formulierte. Zahlreiche Diagnosen und Heilmittel wurden in Verbindung mit Almas Gottesglauben in Erwägung gezogen.
Doch dann hörte Alma auf, Sachen mit in die Schule zu nehmen, um sie zu verschenken, sie kniete nicht mehr vor Schülern, die sie herumschubsten oder hänselten, und daraufhin ließ auch das schlimmste Schubsen und Hänseln nach, Alma wurde in Ruhe gelassen, und eine Weile sah es so aus, als würde sich die Situation normalisieren.
Als Alma elf wurde, luden Siri und Jon alle Mädchen in der Klasse zu einer Geburtstagsfeier ein – und fast alle sagten zu. Einen Tag vorher fuhr Siri mit Alma in die Stadt, um ein Geburtstagskleid für sie zu kaufen. Alma war klein und mollig, und sie einigten sich auf einen Rock und eine Bluse aus demselben schimmernden Silberstoff. Sie kauften auch Schuhe. Und Rosinenbrötchen und Kakao in der Konditorei. Dann gingen sie zum Friseur, um Almas kurze, schwarze Haare in Form zu bringen.
»Vielleicht können Sie ihr Gesicht etwas weicher erscheinen lassen«, flüsterte Siri der jungen Friseurin zu. Die Mutter schaute die Tochter im Friseurspiegel an. »Das Gesicht etwas weicher erscheinen lassen, damit du nicht so zornig aussiehst, Liebes. Findest du nicht auch?«
Siri lächelte der Friseurin verschämt zu, tätschelte Alma die Wange und setzte sich an den Ausgang, wo sie eine Frauenzeitschrift fand, hinter der sie sich verstecken konnte.
Am nächsten Tag, als die Mädchen aus ihrer Klasse an der Tür zu klingeln begannen, rannte Alma in ihr Zimmer und legte sich unter die Decke. Jon ging zu ihr, setzte sich auf die Bettkante und sagte so behutsam wie möglich, dass ihre Gäste gekommen seien, dass sie Geschenke mitgebracht hätten, dass Alma jetzt mit ihm nach unten kommen müsse. Widerstrebend folgte sie dem Vater ins Wohnzimmer, wo die Mädchen aus ihrer Klasse auf sie warteten.
Fröhliche Stimmen, lautes Kichern und eifrige Rufe hatten das Haus erfüllt, doch Stille senkte sich über den Raum, als Alma mit den Eltern im Schlepptau ins Wohnzimmer trat. Die Mädchen betrachteten Alma, Alma betrachtete die Mädchen.
Sie sahen aus wie zwei Armeen, die sich in einer Ebene gegenüberstanden, dachte Jon, und Alma war die einzige Soldatin ihres Heers.
Dann wurde die Stille gebrochen.
»Hallo, Alma«, sagte eins der Mädchen.
»Hallo, Alma, alles Gute zum Geburtstag«, sagte eine andere.
»Was hast du für eine schöne Frisur«, sagte eine Dritte.
»Willst du deine Geschenke nicht auspacken?«, fragte eine Vierte.
»Cooler Silberrock«, sagte eine Fünfte.
Die Gruppe löste sich auf, aber die Mädchen scharten sich erneut zusammen – diesmal um Alma. Sie klopften ihr auf die Schulter, umarmten sie, für einen Augenblick war sie die Auserwählte, die Begehrteste, sie konnten nicht genug von ihr bekommen, was Jon daran erinnerte, wie er einmal Alma von der Schule abgeholt und den Welpen Leopold mitgenommen hatte. Bevor er wusste, wie ihm geschah, wurde er im Schulhof von kleinen, gierigen, lieben, bettelnden Mädchen überfallen, die mit ihren eifrigen, sanften Händchen das weiche Fell des Hundes streicheln wollten, er erinnerte sich an die Münder der Mädchen, so viel weiche Haut auf einmal, ein Chor fröhlicher Stimmchen : Neeeee, ist der süüüüß! Darf ich ihn mal streicheln, biiitte! Der hat ja sooo weiche Ohren!
Alle Mädchen aus Almas Klasse waren mindestens einen Kopf größer als sie, die meisten hatten lange oder halblange Haare, mit Perlen oder Spangen verziert. Jetzt stand Jons Tochter mitten im Wohnzimmer, wurde von ihnen umringt, wie Jon von ihnen oder von Mädchen, die so aussahen wie sie, umringt worden war, als er sich mit einem braunäugigen Hundewelpen im Schulhof gezeigt hatte. Sie war von ihnen umringt, Alma, mit ihren tiefschwarzen Haaren und den glänzenden Augen, wurde von ihnen aufgesogen.
Sie ließ sich tätscheln, leistete keinen Widerstand, schnitt keine Grimassen, sie packte die Geschenke aus (drei Bücher, ein Spiel, ein Friseurset, ein Lipgloss, eine glitzernde Strumpfhose, eine Bluse, eine Glasperlenkette, ein Armband) und bedankte sich bei allen mit einer höflichen Umarmung. Das läuft ja bestens , flüsterte Siri Jon zu, ich glaube, Alma hat ihren Spaß , und Jon nickte,
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