Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
spielen. Jon sei ihr bester Freund, sagte sie.
»Aber ich bin dein Papa«, sagte Jon. »Gleichaltrige Freunde sind auch was Schönes.«
»Ich will nur dich«, sagte Alma.
»Wollen wir vielleicht jemanden aus deiner Klasse einladen? Zum Beispiel Tuva? Oder Marie-Louise oder …«
»Glaubst du an Gott, Papa?«, fiel Alma ihm ins Wort.
»Nein«, sagte Jon. »Das tue ich nicht. Aber viele glauben an Gott«, fügte er hinzu. »Wie wäre es mit Gina oder Hannah Linnea? Vielleicht hat eine von ihnen Lust, hierherzukommen?«
»Mama glaubt auch nicht an Gott«, sagte Alma. »Warum glaubt ihr nicht an Gott?«
»Ich glaube, wir glauben an die Menschen«, antwortete Jon. »An alles, was wir Menschen zustande bekommen – im Guten wie im Schlechten. Wir bauen auf und zerstören und bauen wieder auf, und ich glaube, jeder Tag bringt eine Wahl mit sich …«
»Ich glaube an Gott«, unterbrach ihn Alma und schlang die Arme um den Hals des Vaters. »Ich bete jeden Tag zu Gott. Ich bete dafür, dass wir ein langes Leben haben, du und ich, weil ich dich lieb habe, Papa, und dass du nicht krank wirst und stirbst, auch wenn du schon ein bisschen alt bist.«
»Hallo! Ich bin doch nicht alt!«, antwortete Jon und versuchte zu lachen.
Diese Gespräche mit seiner Tochter verdarben ihm die Stimmung. Warum konnte sie nicht – wenigstens ab und zu! – über Dinge reden, über die andere Zehnjährige redeten?
Einmal kaufte Jon für Alma eine große Tüte Süßigkeiten, einen rosa Lipgloss und eine Hannah-Montana- DVD . Eine Überraschungstüte! , rief er, als er nach Hause kam.
Alma rannte ihm entgegen, riss ihm die Tüte aus der Hand und schaute hinein. Ihre Augen wurden zu Schlitzen, als sie den Inhalt erblickte. Dann füllten sie sich mit Tränen. Sie nahm den Lipgloss heraus und hielt ihn dem Vater zwischen Daumen und Zeigefinger vor die Nase, als handelte es sich um eine tote Maus. Ihr kleines, rundliches Gesicht war bereits tränennass. Dann legte sie den Lipgloss wieder in die Tüte, drückte sie ihm in die Hand und sagte: Du kennst mich überhaupt nicht! Sie drehte sich um und stürmte die Treppe hinauf.
Ein andermal sagte Alma: »Ab und zu spricht Gott zu mir.«
»Was sagt er dann?«
»Er sagt, dass ich bestimmte Sachen für ihn machen muss, wenn ich sie nicht mache, wirst du sterben.«
»Aber Alma!« Jon setzte sich auf, legte das Buch zur Seite, drückte seine Tochter an sich und flüsterte: »Was für Sachen verlangt Gott von dir?«
»Er sagt, dass ich die ganze Nacht wach bleiben muss und nicht schlafen darf. Er sagt, dass ich im Regen hundertmal ums Haus rennen muss, auch wenn ich keine Lust dazu habe. Er sagt, dass ich bei Rot über die Straße gehen muss, nicht bei Grün, auch wenn Autos kommen. Er sagt, dass ich meine Kuscheltiere weggeben muss, er sagt, dass ich Tomatenmakrelen essen muss, auch wenn es für mich nichts Ekligeres gibt.«
»Moment mal. Mama und ich dachten, du hättest alle Kuscheltiere weggegeben, weil du nicht länger mit ihnen spielst. Du hast selbst gesagt, dass du zu groß bist, um mit Kuscheltieren zu spielen.«
»Ich bin auch zu groß, um mit Kuscheltieren zu spielen«, sagte Alma. »Aber das ist nicht der Punkt. Ich hätte niemals Knuffi weggegeben, wenn Gott es mir nicht befohlen hätte.«
»Du hast Knuffi weggegeben?«, fragte Jon.
»Ich habe ihn Knut aus meiner Parallelklasse geschenkt.«
»Dem Knut, der so fies zu dir war, als du in die Schule kamst?«
»Ja, dem Knut! Und er hat gesagt, dass er auf Knuffi pinkeln und ihn in den Müll werfen will, er hat gesagt, dass er nichts haben will, was ich mit meinen ekligen Fingern angefasst habe, aber ich habe vor ihm gekniet und gesagt, dass er Knuffi annehmen muss, dass er mit ihm machen kann, was er will, dass er ihn aber unbedingt annehmen muss.«
»Aber Alma, warum machst du solche Sachen? Warum verschenkst du … Hast du mit Mama darüber gesprochen?«
»Ich rede nicht mit Mama. Ich rede mit dir.«
Jon nahm Almas rundliches Gesicht in die Hände und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.
»Warum verschenkst du Sachen, die du magst, an Leute, die nicht nett sind? Hast du gesagt, dass du vor Knut niedergekniet bist? Hast du das gesagt?«
Alma nickte.
»Wenn ich nicht mache, was Gott verlangt«, flüsterte sie, »dann stirbst du.«
Weder Siri noch Jon konnten verstehen, wo Alma mit ihren zehn Jahren diesen fiebrigen Gottesglauben herhatte. Der Schulpsychologe wurde eingeschaltet. Die Lehrer wurden informiert. Schließlich
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