Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
weiße Haus zu schreiten. Unermüdlich lief sie durch das Haus. Durch den Flur und die Stube und die riesige Küche, die endlose Treppe hinauf und hinunter, in ihr Zimmer und wieder hinaus.
»Willst du nicht draußen spielen«, fragte Jon.
»Wollen wir nicht was Nettes zusammen machen«, fragte Siri.
Sie verstanden den gewaltigen Ernst nicht, der sich über die Tochter gelegt hatte.
»Lasst das Mädchen in Ruhe«, sagte Jenny. »Seht ihr nicht, dass sie nachdenkt!«
Und dann hatte Jenny Alma in den Arm genommen und gesagt: »Darf ich dich begleiten? Du brauchst nicht zu reden, wir können einfach laufen, ohne etwas zu sagen!«
Jon wusste, dass Jenny dieses spezielle Enkelkind liebte, sich für das andere – die kleine Liv mit den hellen Locken, in die alle vernarrt waren – aber nicht sonderlich interessierte. Jon hatte gesehen, wie Alma und Jenny ständig zusammen spazieren gingen oder sich ins Auto setzten und davonfuhren. Worüber unterhielten sie sich? Was verband sie miteinander? Die schmächtige und unversöhnliche Frau und das rundliche kleine Mädchen?
Und jetzt war der Tag gekommen. Der unglückselige fünfundsiebzigste Geburtstag. Jenny hatte getrunken, nachdem sie ein Mannesalter lang trocken gewesen war. Ein Frauenalter , hätte Jenny wohl angemerkt. Sie hatte leicht gelallt, als Jon sie auf der Treppe traf.
»Guten Nachmittag, Jon«, sagte sie.
Jon blieb stehen und sah sie an.
»Was um Himmels willen?«
»Ja«, sagte Jenny, »genau. Was um Himmels willen! Das trifft es!«
Jon sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.
»Bist du betrunken, Jenny?«
»Ich bin über zwanzig Jahre lang nüchtern gewesen. Das ist mehr, als man von dir behaupten kann, stimmt’s?«
»Da hast du recht«, sagte Jon.
Er sah sich um und senkte die Stimme.
»Weiß Siri, dass du getrunken hast?«
»Ich bin fünfundsiebzig und mache, was ich will.«
Jenny fuhr sich mit der Hand durch die Haare und bedeutete Jon mit einer Geste, dass sie an ihm vorbeiwollte – sie standen nach wie vor auf der Treppe –, aber Jon hielt sie fest und trat ganz dicht an sie heran.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Jenny«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Sie nickte und versuchte, ihn wegzuschieben.
Jon flüsterte weiter: »Siri hat hart dafür gearbeitet, damit du heute Abend ein schönes Fest bekommst. Wie wäre es, wenn du etwas mehr …«
Er suchte nach dem richtigen Wort. Rücksicht? Nein, das war zu viel verlangt. Dankbarkeit? Nein, er wollte keine emotionale Erpressung. (Und um gerecht zu sein: Die alte Hexe hatte schließlich nicht um die Feier gebeten.) Anstand? Reife? Muttergefühle? Er begann noch einmal von vorn, ließ ihren Arm los und redete ganz normal.
»Jenny, wie wäre es, wenn du wenigstens so tun würdest, als würdest du dich über das Fest heute Abend freuen? Siri bedeutet es sehr viel.«
Sie schüttelte den Kopf und ging weiter.
»Hörst du, was ich sage, Jenny?«
Jenny gab keine Antwort, sondern ging übertrieben langsam und irgendwie würdevoll die Treppe hinunter.
Die Spanferkel waren vakuumverschweißt und lagen in Kisten. Jon stellte sich vor, wie sie in Oslo im Gefrierlager des Lieferanten gelegen hatten: hellrot, fast weiß, mit einem sanften Gesichtsausdruck um den Rüssel. Die Haut am Nacken und an den Vorderbeinen war faltig wie bei gutgenährten Säuglingen. Sie waren tiefgefroren, aus Spanien importiert. Fünf Ferkel, 170 Kronen pro Kilo plus Mehrwertsteuer, sechs Kilo pro Tier. Siri bekam selbstverständlich den Großhandelspreis.
»Nun gut, wir essen sie ein andermal«, sagte Siri, die im letzten Moment ihre Entscheidung revidiert beziehungsweise dem Druck nachgegeben hatte.
Keiner wollte Spanferkel haben. Alma hatte im Netz Bilder von gegrillten Spanferkeln gesehen und angefangen zu heulen, sie hatte nicht eher aufgehört, bis Jenny mit Messern im Blick das Enkelkind mit zum Strand nahm, um baden zu gehen. (Die Messerspitzen waren auf ihre Tochter gerichtet, nicht auf das heulende Enkelkind.) Irma hatte etwas von Tiermord und Kannibalismus gemurmelt und war im Keller verschwunden. Und jetzt stand Siri in der Küche und legte letzte Hand an ein Menü, das ihr alles andere als am Herzen lag, Garnelen, Hähnchenspieße, Frikadellen, Salate und dergleichen Fingerhappen.
Alle zufrieden jetzt?
Tage, ja Wochen vor dem Geburtstag hatte Jon alles darangesetzt, Siri die Spanferkel auszureden. Er hatte alles darangesetzt, ihr das ganze Fest auszureden. Jenny wollte es doch nicht! Keiner
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