Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Fenster und schaute hinaus.
Er betrachtete Alma, Liv und Mille draußen auf der Blumenwiese. Sie pflückten Blumen für die Biertische. Mille drehte sich ein paarmal um und sah mehr oder weniger direkt zu ihm hoch, er schloss die Augen, wollte ihrem Blick nicht begegnen, obwohl er wusste, dass sie dort unten, weit weg, unmöglich erkennen konnte, ob er hier oben stand oder nicht. Vielleicht wusste sie es trotzdem. Er hatte ihr gegenüber erwähnt, dass er im Dachstuhl ab und zu am Fenster stand und auf die Blumenwiese und den Wald schaute, wenn er keine Lust mehr hatte, still am Computer zu sitzen.
Notiz
15. Juli 2008
Herman R. schreibt über die fürchterlichen Tage in Buchenwald, wo er als kleiner Junge gefangen gehalten wurde, und lässt sich die Geschichte eines neunjährigen Mädchens einfallen, das ihm über den stromführenden Stacheldrahtzaun hinweg Äpfel zuwirft. Die Geschichte zirkuliert im Netz, die Historikerin Deborah Lipstadt ist die Erste, die sich damit auseinandersetzt, und zwar in Deborah Lipstadts Blog , den sie ins Leben gerufen hat, als 2006 ihr Buch History on Trial: My Day in Court with David Irving publiziert wurde.
Ein kleines Mädchen wirft Äpfel (und manchmal Brot) über den stromführenden Stacheldrahtzaun in Buchenwald, damit der kleine Junge (der den Holocaust überlebt, heranwächst, als Mann in die USA emigriert, heiratet, Kinder bekommt und im Alter von siebzig Jahren beschließt, eine Geschichte zu erzählen) nicht verhungern muss. Doch die Geschichte ist nicht wahr. Herman R. lügt. Das Mädchen hat es nicht gegeben. Dennoch setzt sich Herman R. viele, viele Jahre später hin, um eine Geschichte zu schreiben. Er betrachtet seine Frau. Sie ist alt geworden. Vielleicht hat sie im Garten Blumen gepflückt ( ich weiß nicht, warum ich immer diese Blumen vor mir sehe, mir vorstelle, dass sie Blumen gepflückt hat, ich lasse es vorläufig stehen ), und jetzt steht sie an der Küchenablage und schneidet die Blumen so zurecht, dass sie sie in eine Vase stecken kann. Herman sieht sie an, sie erwidert seinen Blick. Sie lächeln sich zu. Es gefällt ihm, dass sie mit den Blumen in der faltigen Faust dort steht und ihm zulächelt. Ist das der Moment, in dem ihm die Idee kommt, über das Mädchen mit den Äpfeln zu schreiben, das ihm damals das Leben gerettet hat?
»Wir brauchen keine beschönigten und/oder unwahren Geschichten. Die Wahrheit reicht dicke aus«, schreibt Deborah Lipstadt in ihrem Blog.
Jon sah sich an, was er am Abend zuvor geschrieben hatte, dann fügte er hinzu:
Muss noch vertieft werden!
Ja, aber was genau musste noch vertieft werden, und wie sollte er es anstellen? Er stand zum fünften Mal an diesem Morgen auf. Er war heute rastloser als sonst. Ihm graute vor dem Fest. Die meisten Gäste waren alt, viele waren in den Achtzigern, ein oder zwei hatten die neunzig überschritten. Der Gedanke an die alten Gäste, die mit Spinnweben im Haar zum Tanzen kamen, und an Jenny vorhin auf der Treppe, sichtlich betrunken, an sich selbst als toten Mann auf dem Boden eines Schwimmbeckens (nicht dass es im Garten von Mailund ein Schwimmbecken gab, aber who cares ), ließ ihn an den Film Sunset Boulevard denken, den er sich so bald wie möglich noch einmal ansehen wollte, und der Gedanke daran stimmte ihn heiter. Er und Siri könnten ihn zusammen sehen. Sie sah sich gern mit ihm Filme an. Hin und wieder stritten sie sich darüber, wer von ihnen die meisten Filme gesehen hatte. Aber sie kochte dann etwas Gutes, machte eine Flasche Wein auf, und sie fläzten sich aufs Sofa, nachdem Liv zu Bett gegangen war.
Manchmal sah sich Alma zusammen mit ihnen einen Film an. Nachdem Siri jetzt zwei Restaurants besaß und nicht mehr selbst Küchenchefin war, konnte sie schließlich ein normales Leben führen, sagte sie.
Jon setzte sich wieder an den Computer, rief Amazon auf und bestellte Sunset Boulevard per Express, was ihn dreihundert Kronen zusätzlich kostete, doch dann käme der Film schon in zwei Tagen mit der Post.
Jon sah Siri vor sich. Wusste sie, dass Jenny in ihrem Zimmer saß und trank?
Er hatte es nicht übers Herz gebracht, es ihr zu sagen. Vielleicht hatte er auch nur keine Lust dazu gehabt. Im Hinblick auf dieses Fest hatte er keinen Kampfeswillen mehr.
Leopold stand auf und sah ihn an, legte Jon eine Pfote auf das Bein. Siri war diejenige gewesen, die den Hund haben wollte. Er hatte keinen Hund gewollt. Doch jetzt hatten sie einen Hund, und er war derjenige, der sich um
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