Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Familie, liebe Freunde. Liebe Siri, die du dieses Fest für mich organisiert hast. Liebe Irma. Wir stehen hier im Nebel und fragen uns, ob es gleich regnen wird …
War das alles gewesen, was sie geschrieben hatte, bevor sie eingenickt war? In ihrer Erinnerung hatte sie viel mehr geschrieben und vielleicht auch etwas Gehaltvolleres. Ein paar Worte an Siri, zum Beispiel, wären angebracht. Siri, die das Ganze organisiert hatte. Dieses Fest, das zwar niemand wollte, am allerwenigsten Jenny, aber trotzdem. Jenny war sich sicher, dass sie Stichwörter aufgeschrieben hatte, was sie in einer eventuellen Rede zu Siri sagen könnte. Etwas, das Siri freuen würde. Etwas Sinnvolles. Sie sah sich im Zimmer um, als suchte sie nach einem weiteren Blatt Papier, auch wenn sie sehr genau wusste, dass es kein weiteres Blatt gab.
Wir stehen hier im Nebel und fragen uns, ob es regnen wird … Nein, das war nicht besonders gut. Es war der reinste Blödsinn. Sie musste etwas Besseres finden. Oder das mit der Rede sein lassen. Sie hatte anderen untersagt, eine Rede für sie zu halten, dann war es vielleicht auch in Ordnung, wenn sie keine Rede hielt. Es handelte sich schließlich um ein Gartenfest, Reden waren nicht erforderlich.
Obwohl es natürlich schön wäre, etwas zu Siri zu sagen. Etwas Richtiges. Bei Irma war es nicht so schlimm. Jenny und Irma verstanden sich. Sie hatten eine Abmachung. Sie brauchten keine Reden. Was sie hatten, ließ sich nur mit sehr kleinen Worten beschreiben, so klein, dass man sie fast nicht hörte. Zum Beispiel: Wenn Jenny zu dem Schluss kommen sollte, dass es nicht mehr ging, dass es an der Zeit war zu gehen, tja, dann sollte Irma ihr helfen. Und umgekehrt. Aber die Wahrscheinlichkeit war gering, dass Irma eine solche Hilfe vor Jenny benötigen würde. Irma war noch jung, zweiundfünfzig, dreiundfünfzig Jahre alt, und kerngesund trotz ihrer besonderen Erscheinung.
Jenny sah sich die Rede noch einmal an.
Liebe Familie, liebe Freunde. Liebe Siri, die du dieses Fest für mich organisiert hast. Liebe Irma. Wir stehen hier im Nebel und fragen uns, ob es gleich regnen wird …
Nein, das reichte nicht, und Jenny machte eins nach dem anderen, das hatte sie seit Syvers Tod getan. Gartenfeste waren ohnehin nicht die Arena für Reden. Sie konnte Siri jederzeit sagen, was sie gedacht hatte , wenn sie irgendwann mit ihr allein war. Nicht heute Abend, sondern wenn das Ganze vorbei war. Jenny holte tief Luft. Und jetzt … Sie drehte sich vor dem Spiegel. Die schwarze Seide spannte über der Brust. Ja, jetzt war es an der Zeit, die Gäste zu begrüßen.
L ass sie in Ruhe, hatte Jon gesagt, und Siri fragte sich, warum er Mille in Schutz nahm. Mille hatte eine Blume aus dem weißen Beet genommen und sich ins Haar gesteckt. Und dann war sie verschwunden. Siri erinnerte sich, wie Mille allein an dem üppigen Festtisch im Garten gestanden und sich bedient hatte. Sie hatte den Teller mit kleinen marinierten Hähnchenspießen gefüllt. Siri stand unter einem Baum und sah ihr zu. Siri hatte die Hähnchenspieße gemacht, aber nicht, damit Mille sie aufaß. Siri sah zu, wie ein Hähnchenspieß nach dem anderen in ihrem Mund verschwand, in den Tiefen eines bodenlosen Abgrunds. Überall in dem nebligen Apfelgarten waren festlich gekleidete Menschen, die redeten und sich zuprosteten, und keiner von ihnen bemerkte Mille. In dem Punkt allerdings irrte Siri. Siri dachte damals, ich bin die Einzige, die sie sieht , aber es waren viele, wie sich herausstellen sollte. Vielen war das Mädchen in dem roten Kleid mit dem roten Schal (den sie von Siri geliehen hatte) und der Blume im Haar aufgefallen. Mille war da gewesen, auf Jenny Brodals Geburtstagsfest, sie wurde gesehen. Und dann verschwand sie so gründlich, dass niemand sie finden konnte.
Mehrere Menschen verschwanden in dieser Nacht. Jon stahl sich davon und kam erst gegen elf Uhr zurück. Sein Anzug war nass und zerknittert, und er behauptete, er sei am Strand eingeschlafen. Er habe etwas Zeit für sich gebraucht, sei losgezogen, um den Wellen zu lauschen, und dann eingeschlafen.
Jenny und Alma hatten sich ebenfalls verdrückt. Ihr Plan war es gewesen, zum Strand zu fahren und sich unter einem Regenschirm in einen Liegestuhl zu legen, aber nein, sie waren nicht zum Strand gefahren (dort wären sie ja Jon begegnet), Jenny war mit Alma in ihrem Opel davongebraust und auf den schmalen Straßen in stark betrunkenem Zustand kreuz und quer gefahren. Sie waren erst mitten in der
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