Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Nacht zurückgekehrt. Unverzeihlich, sagte Siri. Sie nimmt Alma mit und fährt besoffen Auto. Das ist unverzeihlich. Es ist einfach nicht zu glauben. Doch als sich dann herausstellte, dass Mille verschwunden war, nicht nur vorübergehend wie Jon und Alma und Jenny, sondern wirklich verschwunden, musste die Auseinandersetzung mit Jenny warten. Laut Alma war ihre Oma stocknüchtern gewesen, was man, wie sie betonte, von Jon und Siri keineswegs behaupten konnte, und Oma hatte wie ein Wasserfall geredet und unter anderem von damals erzählt, wie sie als kleines Mädchen in Molde gelebt hatte und die Deutschen die Stadt bombardiert hatten, ja, alles, was von dem Brand vierundzwanzig Jahre zuvor nicht zerstört worden war, hatten die Deutschen innerhalb weniger Tage im April und Mai 1940 in Schutt und Asche gelegt, und anschließend hatte Alma Siri und Jon Jennys ganze Geschichte erzählt, und sie hörten sie zum ersten Mal.
Jenny war sieben gewesen und mit ihrer Mutter unterwegs. Ihrer Mutter, die Karen hieß. Als die Deutschen den Stadtkern bombardierten, trat Karen der Frauenarbeitshilfe bei, deren Ziel es war, allen zu helfen, die von der Bombardierung betroffen waren.
»Und eines Tages«, erzählte Jenny Alma, »als ich mit meiner Mutter und anderen Frauen zusammen war, kam ein Deutscher zu Besuch, ich weiß nicht genau, warum er kam, vielleicht war er ein Bote, das spielt aber auch keine Rolle, was mich beeindruckt hat und woran ich mich noch heute erinnere, ist die Art, wie er sich fast verwundert im Zimmer umgesehen hat. Meine Mutter und die anderen Frauen waren eifrig damit beschäftigt, Babywäsche zusammenzulegen, die später an bedürftige Familien verteilt werden sollte, und der Deutsche fragte: Sind davon auch kleine Kinder betroffen? Und die Frauen sahen ihn überrascht an, und meine Mutter sagte: Ja. Ich glaube nicht, dass sie mehr sagte. Einfach nur ja. Daraufhin senkte der Deutsche den Kopf und flüsterte: Krieg ist ein Jammer. «
Der Unterschied war, dass Mille nicht zurückkam. Siri und Jon gingen zunächst davon aus, dass sie mit jemandem nach Hause gegangen war, einem fremden Jungen oder Mann, und Siri wusste noch, dass sie sich vornahm, ein ernstes Wort mit Mille zu reden, ob sie denn nicht wisse, wie riskant es sei, mit einem Fremden nach Hause zu gehen, dass sie in Wahrheit aber sehr zornig auf Mille gewesen war. Weil sie verduftet war. Weil sie sich angepriesen hatte. Siri begriff nicht, warum sie so wütend wurde, Mille war ja kein Kind mehr. Eine Kindfrau eher. Aber kein Kind. Mondschön, auf der Suche, sich anpreisend. Und was war geschehen, warum kam sie nicht zurück? Wenn man die Sorge zulässt, ist es so, als ließe man eine Flutwelle ins Haus, und im Laufe des Vormittags nach zahlreichen vergeblichen Versuchen, Mille auf ihrem Handy zu erreichen (es war entweder ausgeschaltet oder der Akku war leer, Siri landete sofort bei der Mailbox), und lange bevor sie mit den Aufräumarbeiten nach dem Fest fertig waren, schickte Siri Jon los, um Mille zu suchen.
»Wo soll ich denn suchen?«, fragte Jon.
»Ich weiß es nicht … Überall, unten am Anleger oder beim Bellini, sie war bestimmt im Bellini.«
»Die haben doch um diese Zeit geschlossen.« Jon sah auf die Uhr, und Siri seufzte.
»Such, wo du willst, Hauptsache, du suchst. Wir haben schließlich die Verantwortung für sie, oder? Und ich muss bald zur Arbeit!«
Und dann wurde es Morgen am ersten Tag ohne Mille, und Vormittag und Mittag und Nachmittag, und um diese Zeit in etwa rief Jon Milles Eltern Amanda und Mikkel an, die ebenfalls kamen und sich an der Suche beteiligten, und dann wurde die Polizei eingeschaltet und die Presse. Der Junge, den sie KB nannten, kam rasch ins Visier der Polizei, er musste mehrmals zum Verhör, doch am Ende mussten sie ihn ziehen lassen. Es hieß, er habe mit Mille im Bellini getanzt und sie hätten die Kneipe zusammen verlassen. KB gab den Zeitungen persönliche Interviews, in denen er bestätigte, dass sie zusammen den Heimweg angetreten hatten, er habe aber keine Lust gehabt, sie den langen Weg hinauf nach Mailund zu begleiten, und als sie zu KB s Haus gekommen seien, hätten sie sich getrennt. Als Freunde, sagte er. Er bereue es jetzt, sagte er, dass er kein Gentleman gewesen sei. Und er gehörte zu denen, die nach ihr suchten. Er suchte überall, genau wie alle anderen.
Mille wurde berühmt. Alle wussten, wer sie war, alle kannten sie, sie selbst war jedoch nirgendwo, sie selbst war spurlos
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