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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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quer.
    Die wenigen Male, die die Mädchen bei sich im Bett schliefen und Jon und Siri ihr Bett für sich allein hatten, in jenen Wundernächten, streckte er die Arme nach Siri aus, aber seine Arme waren nicht lang genug, und sie rührte sich nicht vom Fleck, und so blieben sie liegen und balancierten am Rand ihrer jeweiligen Bettseite. Und Siri sagte: Ich will einfach nur schlafen. Bitte. Lass mich in Ruhe.
    Sie erinnerten sich gegenseitig daran, dass das Getrenntschlafen nur eine vorübergehende Lösung war, und sprachen oft darüber, wann sie wieder gemeinsam zu Bett gehen würden. Bevor Siri abends schlafen ging, legte sie die Kinder auf seine Seite des Doppelbetts.
    »Dann werde ich nachts nicht von ihnen geweckt«, sagte sie und schloss die Tür.
    Jon protestierte nicht. Es war gewissermaßen sein Geschenk für sie. Eine weitere Nacht ohne ihn. Wenn er nur nicht zu viel nachdachte, ging alles gut. Bald würden sie wieder zusammen schlafen.
    »Ich habe so viel zu tun«, sagte sie, »ich stoße überall an meine Grenzen.«
    Anfangs trug sie seine Decke ins Dachzimmer und richtete ihm das Bett wie einem König, am nächsten Morgen trug Jon die Decke wieder zurück und legte sie aufs Doppelbett. Mit der Zeit hörte sie auf, das Bett für ihn zu richten, legte nur die Decke auf die Treppe, damit er sie selbst nach oben tragen konnte.
    Manchmal schickten sie sich gegenseitig SMS .
    Denke an dich. Vermisse dich.
    Habe Sehnsucht nach dir.
    Verlass mich nicht.
    Schlaf süß.
    Küsschen.
    Und eines Abends fotografierte sie das Wasserglas auf ihrem Nachttisch und schickte ihm das Bild. Es war lange her, seit sie zuletzt zusammen geschlafen hatten, lange her, seit sie nebeneinander gelegen und sich gegenseitig Geschichten erzählt hatten, und Jon schickte ihr ein Foto vom Zipfel seines Kopfkissenbezugs. Am nächsten Abend schickte sie ihm per Handy einen Ausschnitt aus einer Kinderzeichnung (von Alma?, von Liv?), die in der Nachttischschublade lag, woraufhin er ihr ein Foto vom Knoten am Ende der Schnur schickte, mit der man das Rollo im Dachzimmer bediente. Siri schickte ihm ein Foto von Livs blonden Locken auf ihrem Kopfkissen mit Hackebackewald-Motiv, daraufhin schickte er ihr ein Foto von ihnen beiden, als sie noch jung waren. Sie schickte ihm ein Foto von ihrer linken Hand ohne Ehering am Ringfinger, sie zog den Ehering am Abend immer herunter und brauchte am nächsten Morgen lange, um ihn wiederzufinden (sie suchte neben dem Waschbecken im Bad, auf dem Nachttisch, in Livs Zimmer neben dem Bett. Hatte sie ihn abgenommen, als sie die Gutenachtgeschichte vorlas?). Er machte ein Foto von ihrem Ehering auf der Kommode oben im Dachzimmer, dort hatte sie ihn vergessen, als sie seine Decke nach oben getragen und das Bett für ihn gerichtet hatte. Sie schickte ihm ein Foto von den rostigen Fensterangeln, er schickte ihr ein Bild von einem Weinkorken, sie wusste nicht, dass er an dem Abend seine zweite Flasche Barolo geöffnet hatte, sie wusste nicht, dass sie nicht die Einzige war, der er in dieser Nacht Nachrichten geschickt hatte, sie wusste nicht, dass er sich am nächsten Morgen zusammennehmen musste, um sie nicht anzuschreien, die Kinder nicht anzuschreien und so den Verdacht zu schüren, dass er zu viel trank, der Kater war das Schlimmste, sie wusste nicht einmal, dass es ein Weinkorken war, den er fotografiert hatte, es konnte alles Mögliche sein, und im Verlauf der langen Monate, die sie sich nachts Fotos schickten, hatten sich ein paar unausgesprochene Regeln herausgebildet, unter anderem, dass sie den anderen nicht fragten, was auf dem Foto zu sehen war.
    Und Siri schickte ihm ein Foto von einem stecknadelkopfgroßen braunen Fleck, den womöglich so etwas wie Haut umgab. Er hielt den Fleck zunächst für eine Sommersprosse. Er war glücklich. Siri hatte Sommersprossen auf den Schultern, zumindest hatte sie früher welche gehabt. Er betrachtete das Foto. Etwas Braunes. Etwas, das wie Haut aussah. Vielleicht eine Sommersprosse.
    Jon hat einmal einen Essay über die junge Mariel Hemingway geschrieben. Über eine Filmszene in Manhattan , in der sie einen Milkshake trinkt und Woody Allen mit ihr Schluss macht. Gee, now I don’t feel so good , sagt Mariel. Ihr Blick. Ihre Jugend. Ihre Ernsthaftigkeit. Und wie es ihn vollkommen überrascht. Woody Allen, der im Film Isaac heißt. Dass die Liebe existiert.
    Und als Siri den Essay las, sagte sie: »Aber es ist doch das Ende, das beeindruckend ist, Jon, das Ende des Films,

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