Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
eine ganze Kleinstadt mit schlaflosen und einsamen Frauen vor, die nachts mit ihren Mobiltelefonen dasaßen und ihm schrieben. Der Gedanke war belustigend und deprimierend zugleich. Das Handy piepte.
Kurt muss in zwei Wochen in die USA es sollte also gehen, denke ich. Frage meine Mutter, ob sie die Kinder nimmt.
Jon schaute sich Karolines SMS an. Wie alt war sie eigentlich? Er zählte es an den Fingern ab. Zwei Jahre jünger als er. Neunundvierzig? Und dann schmückt sie ihre SMS mit einem Smiley, als wäre sie ein kleines Mädchen mit Pippi-Zöpfchen. Eine kleine Lolita. Ein kleiner Leckerbissen. Er lachte laut. Wie schrecklich. Ein Smiley . Sie war nicht nur uncharmant, sie war auch noch strohdumm. Er schrieb:
Ich werde nirgendwo mit dir hinfahren und niemals mehr mit dir reden. Du bist uncharmant, pathetisch, lächerlich, hässlich und langweilig, und ich hasse es, mit dir und deiner welken Fotze zu schlafen, und du stinkst, und du erinnerst mich an alles, was an mir und an der ganzen verdammten Welt verachtenswert ist. Jon.
Er las den Text noch einmal durch. Ja, genau so war es! Dann drückte er auf delete . Es spielte sowieso keine Rolle. Warum sollte er nicht mit Karoline nach Sandefjord fahren? Er konnte genauso gut mit Karoline nach Sandefjord fahren, wie er es lassen konnte. Karoline wollte zumindest vögeln. Sie wollte ihn zumindest haben. Sein Handy piepte erneut. Was war sie eifrig, die gute Karoline. Er las die SMS .
Jon – könnte es nicht sein, dass alles Konsequenzen hat? Immer?
Jon fuhr zusammen. Verdammt! Hatte er Karoline die SM S mit der welken Fotze doch geschickt? Er warf einen Blick auf die Whiskyflasche. Was hatte er bloß getan? Er begann zu schwitzen. Er checkte seine Gesendeten Objekte. Nein, er hatte sie nicht verschickt. Er checkte seine Gelöschten Mitteilungen – hier lag sie. Er hatte sie nicht verschickt. Er löschte sie noch einmal und bestätigte die Frage, ob er sicher sei, dass er sie endgültig löschen wolle. Er besah sich die SMS , die er gerade bekommen hatte.
Jon – könnte es nicht sein, dass alles Konsequenzen hat? Immer?
Er schaute sich die Nummer an, von der die SMS verschickt worden war. Er kannte sie nicht. War es Siri, die ihm von einem anderen Handy SMS schickte? Einem Handy, von dem er nichts wusste? Hatte sie ihn durchschaut? Er merkte, dass der Whisky auf dem Weg nach oben war, und musste die Hand vor den Mund halten, um nicht zu spucken. Er spürte den Blut- und Kotzegeschmack im Mund. Er atmete tief. Ein und aus. Ein und aus. Ein und aus. Es ging ihm gut. Er würde nicht spucken. Er würde nicht sterben. Es war ja nichts passiert. Er war hier. Zu Hause. Er war nirgendwo sonst. Aber hatte sich Siri irgendwie in seine nächtliche SMS -Korrespondenz gehackt und ihm die Nachricht von einem Handy geschickt, von dem er nichts wusste – und warum hatte sie ein Handy, von dem er nichts wusste? Jon gab die Nummer bei der Telefonauskunft ein und erhielt keinen Treffer. Dann ging eine neue SMS ein.
Alles hat Konsequenzen. Immer. Immer. Immer. Immer.
Er holte tief Luft und schrieb:
Wer sind Sie?
Er musste nicht lange warten.
Ich weiß, wer ich bin, und ich weiß, wer Sie sind. Und Sie haben nicht alles gesagt, was Sie über ihr Verschwinden wissen. Gruß, Amanda.
Dann ging eine neue SMS ein.
Ich bin Milles Mutter, aber das haben Sie vielleicht schon begriffen.
S eit ihrem Verschwinden war jetzt fast ein Jahr vergangen. Im Sommer 2009 hatten Jon und Siri und die Kinder exakt vier Tage in Mailund verbracht, bevor sie alles zusammenpackten und nach Oslo zurückkehrten. Jenny und Irma waren bis spät in die Nacht aufgeblieben, hatten Rotwein getrunken und wollten mit dem Rest der Familie nichts zu tun haben. Die beiden Frauen befanden sich entweder in Jennys Teil des Hauses (im ersten Stock) oder in Irmas Teil des Hauses (in der Kellerwohnung), und als Liv nicht mehr aufhörte zu weinen, nachdem sie eines Morgens Ende Juni einer stockbesoffenen Jenny in der Küche begegnet war, sagte Siri, sie wolle nicht länger bleiben. Es sei besser abzureisen. Das ganze Haus erinnerte an Mille. Das war der eigentliche Grund, auch wenn niemand darüber sprach. Ihr Verschwinden war überall. In der Küche, im Bad, im Sofa und in den Sofakissen, an den Fußleisten und Türrahmen, im Nebengebäude, im Blumenbeet hinter dem Haus, im Gemüsegarten, unter dem Ahornbaum, in einem Bikini mit schwarzen Punkten. In dem weißen Beet.
Die weiße Pfingstrose in deinen Haaren –
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