Das verschwundene Kind
schien sie die Tür geöffnet zu haben. Vielleicht sei es jemand gewesen, der zum Freundeskreis gehörte, vielleicht aber auch ein Aufkäufer für verschiedene Möbel, welche die Frau hatte loswerden wollen. So jedenfalls hatte eine Nachbarin berichtet. Erdrosselt worden sei sie mit einem Tuch oder einem Stoffgürtel. Die Tatwaffe sei nicht gefunden worden.
»Beschreibe mir genau, wie die Frau aussah«, bat Lars Stephan.
»Langes, glattes, dunkles Haar, Anne-Will-Typ. Sehr hübsch. Ende zwanzig. Allerdings kein Kopftuch, kein Kaftan wie bei euch da drüben.« Brunni prustete los.
Lars Stephan unterließ es, den Kollegen über die Einzelheiten des Offenbacher Falles aufzuklären. Was hätte das schon gebracht? Die nächsten Stunden war Stephan ziemlich unruhig und verbiss sich in die Vorstellung, dass es sich um einen Serientäter handelte, und er verstand immer weniger, warum Heck das nur als eine Möglichkeit unter vielen sah. Stephans Alarmstimmung wurde durch Hecks Gelassenheit noch verstärkt.
Schließlich gestand Stephan sich ein, dass er nur deshalb so nervös war, weil Maren in das Opferprofil passte. Er versuchte, sich damit zu beruhigen, dass es schon ein unglaublicher Zufall wäre, wenn ausgerechnet Maren das nächste Opfer würde. Doch dann dachte er wieder an seine Panikreaktion beim Anblick der toten Özlem. Um seine innere Ruhe wiederzufinden, gab es nur eines: Er musste Maren aufsuchen, noch heute Abend! Er schob hastig die Akten auf seinem Schreibtisch zusammen und schaute auf die überquellenden Papierberge, die eine zerklüftete Landschaft auf Hecks verwaistem Schreibtisch bildeten. Ein zwei Handbreit großes Tal zeigte an, wie viel von der Schreibunterlage sichtbar geblieben war. Stephan hatte keinen Nerv mehr, sich jetzt in alle Akten zu vertiefen. Kurzerhand nahm er von seinem Schreibtisch die Sammlungen »Bericht Spusi«, »Zeugenbefragung Arztpraxis« und erhöhte damit das Gebirge auf dem Schreibtisch des Kollegen.
Die Akte »Befragung Dr. Veronika Kling« warf er in seine Schreibtischschublade. Zurzeit befand sich darin lediglich ein Blatt mit einer Stachelschweinzeichnung. Den Bericht über die Kling musste er noch ausarbeiten, der momentan nur aus einem Blatt mit den Stichworten bestand:
10
. Oktober, scharfe Frau mit hungrigem Blick, weiß nichts, auch Ärztin, Shiatsu. Googeln!
Dazu würde er jetzt noch den Aktendeckel mit dem neuesten Vorgang legen. »Serientäter« lautete die Beschriftung. Obwohl er eigentlich möglichst bald Feierabend machen wollte, klappte er die roten Pappdeckelseiten noch einmal auseinander und las sich schließlich fest. So kannte er sich, er war der Jagdhund, der die Spur aufnehmen musste. Im Moment schnüffelte er mit der Nase am Boden in jedem Winkel, um den Hinweis zu finden, der ihn schließlich überzeugte und nicht mehr losließ, bis er die »Beute« aufgestöbert hatte. Wie oft waren ihm schon nach mehrfachem Spuraufnehmen – sprich: Durchlesen – plötzlich Geringfügigkeiten und neue Zusammenhänge oder Fragen aufgefallen, die sich letztendlich als der Schlüssel zur Lösung entpuppt hatten.
Stephan vertiefte sich noch einmal in die Seiten. Detailreich hatte er Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Frankfurter und des Offenbacher Falles aufgelistet und zu seinem Schrecken festgestellt, dass es einige Gemeinsamkeiten gab. War es ein Zufall, dass beide Frauen dunkelbraunes, langes Haar hatten? War es Zufall, dass beide Frauen auf dieselbe Art getötet wurden und dem Täter Zutritt in ihre Wohnung gewährt hatten? Stephan recherchierte die Mordstatistiken der Stadt Offenbach aus den letzten Jahren. Die Zahlen erstaunten ihn. Im Gegensatz zum schlechten Ruf der Stadt war Mord eine äußerst seltene Straftat. Deshalb gab es noch nicht einmal eine dauerhaft arbeitende Mordkommission. Das K 11 beschäftigte sich grundsätzlich mit jeder Art von Gewaltdelikten. Geschah eine Tat mit unklarer Todesfolge, so wurde die Arbeitsgruppe des K 11 , die sich dieses Falles annahm, als Mordkommission auf Zeit bestimmt.
Stephan erweiterte seine Recherche um das Thema »Serientäter«. Dazu fertigte er sich Notizen an:
Serientäter gibt es mehr im Film oder in der Literatur als in der Realität, Täter sieht in der Tat eine Art »Erlösungserlebnis«, das allerdings nur kurzfristig anhält, muss also erneut aktiv werden, um wieder einen »Kick« zu bekommen, Opfer sind meistens Frauen oder Kinder. Motive: teilweise sexuell, aber eher Lust an Macht und
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