Das verschwundene Kind
Stimme sagte er: »Ich hatte noch keine Zeit, sie zur Spusi zu bringen. So wichtig ist das nicht, oder hältst du mich für den Täter, Kollegin?«
Ihre Lippen schoben sich über die Eckzähne. Sie tarnte das als abfälliges Grinsen. Doch Stephan spürte ihren Rückzug und hielt weiter ihrem Blick stand. Da senkte sie die Lider, griff hastig nach der Jacke und stopfte sie in einen mitgebrachten, geräumigen Plastiksack.
Ohne ihn noch einmal anzusehen, sagte sie: »Du müsstest doch eigentlich wissen, dass wir eine sehr umfangreiche und sehr unübersichtliche Spurenlage an diesem Tatort haben. Da müssen unbedingt die Spuren herausgefiltert werden, die Kollegen aufgrund ihres unprofessionellen Verhaltens dort auch noch abgelegt haben.«
»Dir sind wohl noch nie Fehler passiert, Kollegin?«, fragte er spitz.
»Solche nicht, die dürfen einfach nicht passieren.«
»Wir haben einen Beruf, in dem wir ständig mit Fehlern konfrontiert werden, die eigentlich nicht passieren dürfen, Kollegin.«
»Ja, die Täter machen die Fehler, aber nicht wir.«
»Dann wollen wir mal hoffen, dass du nie eines Besseren belehrt wirst, Kollegin!«, sagte er.
Mit einer schnellen Handbewegung nahm er seinen Fahrradschlüssel und das Handy von der Schreibtischplatte und steckte es sich im Gehen in die Hosentaschen. Mit einem zügigen Schritt trat er auf Ernestine Hoff zu. Sie wich mit einer schnellen Bewegung zur Seite und ließ ihn durch, was er mit einem gnädigen Lächeln registrierte.
»Schön’ Tach noch, Kollegin«, flötete er ihr zu.
»Schön’ Feierabend«, zischte sie ihm hinterher.
Er ging beschwingt davon und stellte mit einem zufriedenen Blick durch die Treppenhausfenster fest, dass sich das goldene Herbstwetter an diesem Tag auch bis zum Abend fortgesetzt hatte. Schönen Feierabend, ja, den wünsche ich mir auch, dachte er.
*
Über dem Ostpark lag der Geruch von Holzfeuer, der vielleicht aus den Kleingartenanlagen in der Nähe kam und sich mit dem würzig modrigen Duft der feuchten Herbstblätter vermischte. Das Tosen des Verkehrs auf dem Ratsweg war hier im Park nur als fernes Rauschen zu vernehmen. Ab und an schallten dröhnende Signalhupen und Lautsprechermusik von der nahe gelegenen Dippemess, einem Volksfest, das zweimal im Jahr in Frankfurt auf dem Festplatz am Ratsweg stattfand.
Maren hatte heute mit ihren Joggingrunden etwas früher begonnen und ihr Programm bereits absolviert. Am Abend wollte sie mit Sybille und Harry ins Kino. Danach vielleicht noch in ein schönes Lokal auf der Berger Straße. Sie setzte sich auf eine Bank in der Nähe des Parkeingangs am Ratsweg, zog das Handy hervor und schrieb Sybille eine SMS . Als sie das Telefon wieder einsteckte und in die Runde blickte, sprang sie erschrocken auf und versteckte sich hinter dem Stamm eines dicken Lederhülsenbaumes. Immer wieder hatte sie in den letzten Jahren damit gerechnet, ihm im Ostpark zu begegnen. Schließlich wohnte er in der Nähe. Dass das immer noch so war, wusste sie. Sie hatte im Telefonbuch nachgesehen, ein paar Mal sogar bei ihm angerufen und ihn nicht erreicht. Eines Tages hatte er sich plötzlich gemeldet. Überrascht hatte sie etwas von »falsch verbunden« gestammelt und aufgelegt. Du benimmst dich, als wärst du fünfzehn Jahre alt, schalt sie sich jetzt. Warum war sie nicht auf der Bank sitzen geblieben und hatte einfach gewartet, bis er sie entdeckte? Alles andere hätte sich von selbst ergeben. Dutzende Male hatte sie überlegt, was sie ihm sagen könnte. Lars, was damals passiert ist, tut mir unendlich leid. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mir inzwischen wünsche, dass alles anders gelaufen wäre. Unsinn! Das war zu dick aufgetragen. So ganz unschuldig war er ja auch nicht daran. Schließlich hatte er ihr gegenüber fast nur mit verdeckten Karten gespielt. Das war nicht gerade eine Basis für eine vertrauensvolle Beziehung. Dennoch.
Maren lugte vorsichtig hinter dem Stamm hervor. Lars stand noch immer auf der Anhöhe des Weges, der hinab in den Park führte, und blickte über die große Wiese hinüber zum Weiher, als suche er jemanden. Es wäre ein Leichtes für sie, jetzt ihr Versteck zu verlassen und zu ihm hinüberzuschlendern. Was hinderte sie daran? War es die Angst vor einer Niederlage, die Angst, dass er sie zurückweisen und jeden weiteren Kontakt mit ihr ablehnen würde? Er könnte sich aber auch freuen, sie wiederzusehen. Doch warum hatte er sich dann nie bei ihr gemeldet? Es war nicht schwierig,
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