Das verschwundene Kind
verwirrt den Kopf. »Lars?«
»Blödsinn!«, zischte Maren, so dass Sybille zusammenzuckte. Sie betrachtete mit ratlosem Blick ihre Freundin, die vor ihr in dem alten Sessel saß. Man sah deutlich, wie es hinter Marens Stirn arbeitete. Dann brach es aus ihr hervor. In zusammenhangloser Reihenfolge, in Stichworten und Halbsätzen schilderte sie Ereignisse, vermischt mit Gedankengängen und Vermutungen. Sybille lauschte staunend und filtrierte aus dem Gehörten heraus, dass Maren glaubte, eine fremde Person betrete ihre Wohnung, hielte sich dort auf und mache sehr abstruse Dinge.
»Eine angebrochene Dose Katzenfutter in Julias Bücherregal«, sagte Maren und schaute Sybille herausfordernd an. »Meine Brillantohrstecker. Einfach weg. Das selbst bemalte Seidentuch – weg!«
»Das mit den blauen Hortensien und den Goldrändern?«, erinnerte sich Sybille. Maren nickte.
»Das ist schade«, kommentierte Sybille. Dann zuckte sie ergeben mit den Schultern. »Aber so was ist mir auch schon passiert. Man ist in Gedanken. Da habe ich schon mein Handy in den Kühlschrank gelegt und meinen Wohnungsschlüssel im Bad an einen Handtuchhaken gehängt. Nach wilder Suche habe ich diese Dinge wiedergefunden und hätte auch schwören können, dass ich das nicht gewesen sein kann.«
»Sicher passiert einem
mal
so etwas, aber doch nicht ständig und in wachsender Häufigkeit! Und das war doch früher nicht so«, protestierte Maren.
»Vielleicht haben sich in letzter Zeit zu viele Dinge in deinem Leben geändert«, probierte es Sybille erneut. »Du bist inzwischen in drei verschiedenen Schulen als Vertretungslehrerin auf Abruf eingesetzt. Ich wollte das nicht machen, also, sofort nach Anruf losfahren und mich in völlig unbekannte Situationen stürzen müssen. Und dann noch mit diesen unwilligen Schülern, die man kaum kennt und die nur Halligalli machen wollen, weil ihr richtiger Lehrer fehlt. Sie nehmen dich nicht für voll. Und jede Vertretungsstunde dieser Art ist eine Nahtoderfahrung – hast du selbst neulich zu mir gesagt. Bestimmt wäre es besser, wenn du wieder einen festen Arbeitsvertrag bekämst mit einer
festen
Lerngruppe und
einem
Fach an
einer
Schule.«
Maren umfasste das leere Wasserglas mit beiden Händen und schaute hinein wie eine Wahrsagerin in die Kristallkugel.
»Das ist es nicht«, wandte sie ein. »Es ist stressig, aber es war früher auch stressig, und da kam das nicht vor. Auch gibt es einen entscheidenden Unterschied zu deinem Beispiel mit dem Handy im Kühlschrank oder dem Schlüssel im Bad. Wenn man den Gegenstand dann wiedergefunden hat, kann man sich plötzlich erinnern, dass man Einkäufe eingeräumt hat oder schnell ins Bad musste und dabei auch diese Dinge verräumt hat. Aber bei mir gibt es keine Erinnerung. Verstehst du? Nichts! Ich war das nicht! Das bedeutet, es gibt nur diese einzige Erklärung: Es verschafft sich jemand Zutritt in diese Wohnung! Auch wenn du mich jetzt für völlig meschugge hältst!«
Sybille lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und schaute mit skeptischer Miene auf Maren.
»Ist das der Grund, warum du mich neulich fragtest, ob ich anderen Leuten Wohnungsschlüssel gegeben hatte, als ich noch hier wohnte?«, forschte sie. Maren nickte. Sybille runzelte die Stirn. »Ich hatte dir doch versichert, dass niemand anders einen Schlüssel hat. Und meinen kann ich dir gerne geben, falls es dich beruhigt.«
Sybille legte eine Atempause ein und blickte durch das Fenster hinüber zu den Giebeln des Hinterhauses. Dahinter gab es hohe Bäume mit schwarzen, knorrigen Ästen, die sich aus irgendeinem alten Stadtgarten in den nebelgrauen Himmel streckten und sich mit ihren zarten Zweigen darin verloren. Sie konnte sich gut vorstellen, wie Maren hier an der Staffelei stand, manchmal hinausschaute und dann auf diese Idee mit dem verwischten Nebel in dem Bild gekommen war. Diese Vermutung wagte sie nicht auszusprechen, stattdessen meinte sie: »Warum hast du denn nicht längst das Schloss ausgetauscht?«
Maren starrte vor sich hin. Dann stieß sie ein irres Lachen aus. Sie fuhr aus dem Sessel hoch, holte aus und warf mit verzweifelter Kraft das Glas gegen die Wand, so dass es nahe hinter Sybille laut zerschellte. Sybille war geistesgegenwärtig zur Seite gesprungen.
Maren schrie jetzt laut: »Aber, verdammt noch mal, für wie blöd hältst du mich? Es ist längst ein anderes Schloss drin! Ein besonders hoher Sicherheitsstandard mit Schlüsseln, die keiner nachmachen kann. Lars hat
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