Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Häuschen ziehen ließ. Ihre Begleiterin, gespielt von Rosalind Russell, hegte ihm gegenüber großen Argwohn, und das wusste er.
Das Haus lag im Wald, wo es immer dunkel war oder alles in tiefem Schatten zu liegen schien und wo von den Ästen der Regen tropfte.
Einen der Hotelgäste, eine Frau, die verschwunden war, umgab ein großes Geheimnis. Schließlich fand man ihre Leiche im Wald. Ihr fehlte der Kopf …
»Suchst du etwa mich?«
Die Stimme fiel wie eine Hand auf meine Schulter, und ich machte einen Satz, um sie abzuschütteln.
Da stand Ralph Diggs, mit einem Handtuch aus seinem Zimmer über der Schulter. Wie dämlich von mir! Er war gar nicht die Treppe runtergegangen, sondern bloß ein paar Türen weiter ins Gemeinschaftsbad. Von unseren Gästezimmern hatten nur wenige ein eigenes Bad.
»Nein«, sagte ich. »Ich hab bloß überlegt, ob du vielleicht beim Abendessen aushilfst.«
»Muss ich das? Davon hat Lola nichts gesagt.«
Lola? Der Kerl nannte sie beim Vornamen?
»Vielleicht« – ich sah nach oben, als könnte ich bis hinauf in den dritten Stock schauen – »könntest du meiner Großtante Aurora Paradise einen Drink raufbringen.« Ich lächelte. »Sie nimmt vor dem Abendessen immer einen Drink. Das wär eine Hilfe, denn heute haben wir Gäste zum Abendessen, und da bin ich total beschäftigt.«
Er sagte weder Ja noch Nein, als könnte er es sich raussuchen. »Kommt sie nicht zum Abendessen herunter?«
»O nein. Nein. Die kommt nie runter. Sie wohnt oben im dritten Stock.« Ich deutete zur Treppe hinten am Flur. »Man könnte sagte, sie ist eine … Einsiedlerin.«
»Klingt ja ziemlich verrückt.« Er zog sich das Handtuch von der Schulter. Wir standen beide immer noch in seiner Tür.
Das fand ich unverschämt und dreist. Ich fragte mich, wie dreist er sich bei Aurora Paradise wohl aufführen würde. »Ich hab bloß gerade überlegt – wieso bist du hier? In Spirit Lake?«
Kaum merkliches Schulterzucken. »Bin bloß auf der Durchreise.«
Das stimmte aber doch gar nicht!
Er hatte haltgemacht und war geblieben.
14. KAPITEL
Ich flitzte wieder zur großen Garage und trommelte an die Tür. Ich wollte sehen, ob ich Will oder Mill ein bisschen über ihn ausquetschen konnte.
Blut aus einem Stein quetschen wäre leichter gewesen und außerdem ein bisschen weniger frustrierend. Wussten sie denn irgendwas über Ralph Diggs? Nein. Warum war er hier? Schulterzucken, Schulterzucken. Woher war er gekommen?
Mill hörte auf, seine Finger über die Klaviertasten gleiten zu lassen, und hob gnadenvoll die Hand wie aus dem Flusswasser. »Aus Doylestown.«
»Doylestown? Wo ist das?«
Mill zuckte die Schultern. »In Pennsylvania?« Er senkte die Hand wieder in seinen Musikfluss zurück.
»Wir finden schon noch eine Rolle für ihn«, sagte Will und warf einen Blick auf seine »Inszenierungsnotizen«, die mir verdächtig nach dem Gästeregister vom Hotel Paradise aussahen.
»Rolle? Meine Güte, der ist aber doch kein Kind ! Der will doch mit uns nicht in einem Stück auftreten.«
Will musterte mich, als wäre ich inzwischen noch verrückter als sowieso schon. »Machst du Witze?«
Mehr brauchte anscheinend nicht gesagt zu werden. Er blätterte eine Seite um.
Ich gab das Thema Ralph auf. Weil ich nicht wusste, was ich fragen sollte, sagte ich bloß: »Wozu brauchst du dieses umständliche, unhandliche Buch?«
»Alle Produzenten haben so eins.«
»Die haben auch Geld, den Broadway und bezahlte Schauspieler.«
Er lächelte ungerührt. »Ha, mich und Mill haben sie aber nicht.«
Für Will war das bloß die Feststellung einer Tatsache. Wenn David O. Selznick ihm zugenickt hätte, dann hätte er zurückgenickt und seinen Terminkalender konsultiert. Ich kenne keinen, nicht mal den Sheriff, der so ein stählernes Selbstvertrauen hat wie Will. Keine Ahnung, wo er das herhat.
Als musikalische Untermalung für unser Gespräch flogen Mills Finger auf den Tasten hin und her. Wahrscheinlich erfand er gerade seine eigene Variation zu einem Gospelsong, den sie drüben im Tabernakel gehört hatten. Eigene Songtexte mit Gospelmusik zu vertonen war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.
»Okay«, sagte Will. »Du kannst Patty Flynn spielen.« Er klappte das Buch zu.
Ich schaute ihn verständnislos an. »Wer ist Patty Flynn?«
»Die Ermordete. Das Opfer.«
»Das ist meine ganze Rolle?« Es war bloß eine Vermutung gewesen, als ich Ree-Jane erzählt hatte, ich sei das Opfer.
»Vorab.« Ungerührt kaute er seinen
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