Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
aber ganz schön in Wallung. » Was? Was ist mit Scarlett?«
»Hm? Ach, du weißt doch, in ihrem gelben Cabrio? Das hab ich die Alder Street runterflitzen sehen.«
Ree-Jane war mir so schnell auf den Fersen, dass sie fast durch die Schwingtür in den Speisesaal gefallen wäre. »War Perry bei ihr? Perry ? War er bei ihr?«
»Hab ich das gesagt?«, fragte ich in einem Ton, der genau das besagte.
16. KAPITEL
Ich hatte keine Ahnung, wie Ree-Janes großer Abend im Double Down verlaufen war. Oder ob sie überhaupt reingekommen war. Das Letzte, an was ich mich erinnere, war, dass sie in Ralph Diggs’ schwarzen Chevy stieg und die beiden die Auffahrt hinunter davonbrausten. Da sie am nächsten Morgen nicht mit Perrys unsterblicher Hingabe herumprahlte, sondern stattdessen ziemlich verdrossen war, nahm ich an, dass sie es gar nicht bis ins Hinterzimmer zum Pokern geschafft hatten. Wahrscheinlich hatten sie es nicht mal besonders weit über die Schwelle geschafft.
Nach meinem Berg Minipfannkuchen mit Ahornsirup beschloss ich, am Highway entlang zum Belle Ruin zu laufen. Mir stand wohl der Sinn nach verblichenem Glanz.
Das Belle Ruin war auf einem mehrere Hektar großen bewaldeten Gelände errichtet worden, das früher Soldiers Park geheißen hatte. Ich hatte keine Ahnung, woher dieser Name stammte. Vermutlich hatte es was mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun oder gar mit dem Amerikanischen Bürgerkrieg. Ich war mir nicht sicher, auf welcher Seite wir waren, Süden oder Norden. War dieser Staat damals nicht gespalten gewesen? Manche waren für den Süden und manche für den Norden? War denn gar nichts entweder schwarz oder weiß? Musste ich in einem Staat wohnen, der es vermutlich nicht mal schaffte, eine Volleyballmannschaft auszuwählen?
Ich überlegte, ob Soldiers Park vielleicht eine Art Soldatenfriedhof gewesen sein konnte, und hielt unterwegs nach Spuren von Grabtafeln Ausschau, sah aber keine. Es könnte natürlich sein, dass sie umgefallen waren oder begraben wurden, als das Gelände für den Bau des Belle Ruin aufgerissen wurde. Aber dann dachte ich mir, wahrscheinlich nicht, denn dann hätte es ja so was wie eine offizielle Vermessung des Grundstücks gegeben, und ich bezweifelte, dass sie auf einem Friedhof mit gefallenen Soldaten aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg etwas gebaut hätten. So was nannte sich Entweihung des Bodens oder der Gräber oder so ähnlich. Die Vorstellung, dass ich gerade auf ein Soldatengrab trat, behagte mir nicht. Man kommt aber schon ins Grübeln, wenn nicht über den Bürgerkrieg (über den ich nichts wusste), so doch übers Sterben.
Ich saß auf einem gefallenen Baumstamm, der zum Großteil schon verwittert war, und blickte auf den Teil des Belle Ruin, der nicht niedergebrannt war – den riesigen Ballsaal. Viele Holzwände hatten gebrannt, aber merkwürdigerweise nicht der Fußboden, nicht das Podium. Am Abend der mutmaßlichen Entführung des Slade-Babys hatte ein großer Tanzball stattgefunden. Ich kam inzwischen immer mehr zur Überzeugung, dass die Kleine nicht entführt worden war und dass es nur danach hatte aussehen sollen.
Warum? Um vom reichen Großvater, Mr Woodruff, Lösegeld zu fordern. Das wäre der naheliegendste Grund gewesen. Bloß hatte es gar keine Lösegeldforderung gegeben, wenigstens soweit wir in La Porte wussten. Denn nachdem die Slades und Mr Woodruff wieder nach New York City zurückgekehrt waren, erschien nichts mehr über die Entführung. Man hatte Ähnlichkeiten mit der Entführung des Lindbergh-Babys festgestellt, etwa die Leiter, die außen an der Hotelmauer lehnte, und natürlich die Tatsache, dass das Baby aus seiner Wiege geschnappt worden war. Die Leiter gehörte Reuben Stuck, einem der Männer, die damals Malerarbeiten am Hotel ausführten. Ich hatte ihn befragt und seinem traurigen Bericht darüber gelauscht, dass er unter Verdacht gestanden hatte.
Es war eine ganz ähnliche Entführung wie im Fall Lindbergh, und dann war weiter nichts mehr berichtet worden. Als wäre überhaupt nichts vorgefallen, und ich dachte schon, dass es vielleicht so war und dass Mr Woodruff die Polizei bestochen hatte, weil er entdeckt hatte, dass seine Tochter Imogen und Morris Slade die ganze Sache inszeniert hatten.
Was aber – sowohl Dwayne als auch Mrs Louderback hatten darauf hingewiesen – war mit dem Telefonanruf? Gloria Calhoun, geborene Spiker, und deren Freundin, Prunella Dingsbums, hatten damals miteinander telefoniert. Es lohnte sich wahrscheinlich,
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