Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
mit Gloria noch mal zu reden. Sie würde wohl kaum zugeben, etwas mit der Entführung zu tun gehabt zu haben, aber vielleicht kriegte ich ja was Brauchbares aus ihr heraus.
Ich stand auf und ging zum Ballsaal hinüber, wo mein Plattenspieler stand. Ich wollte ihn nicht der Witterung ausgesetzt lassen und konnte ihn ja immer herbringen, wenn ich tanzen wollte. Ich hatte bloß drei Platten mitgebracht. Die letzte hatten wir kürzlich erst gespielt, an dem Abend, als der Sheriff und Maud und Dwayne hier draußen gewesen waren. Es war »Moonlight Serenade«. Und jetzt lag »I’ll Be Seeing You« auf dem Plattenteller.
Wie konnte das sein? Ich schaute um mich, als erwartete ich fast, einen Saal voller Tänzer zu sehen. Wer hatte »I’ll Be Seeing You« aufgelegt? Ich malte mir aus, wie hundert uniformierte Weltkriegssoldaten mit Garderobieren/Rezeptionsdamen/Bedienungen in bunt bedruckten Kleidern tanzten. Die Geister von den Soldaten und ihren Tanzpartnerinnen schwebten übers dunkle Parkett. Und ich stellte mir vor, eine von ihnen wäre das Mädchen, und sie würde mit ihrem hellen Haar und dem zartblauen Kleid perfekt dazu passen.
Ich klappte den Deckel zu, klemmte mir die Schallplatten unter den Arm und verließ das Belle Ruin und den Soldiers Park.
Während ich zum Hotel Paradise zurücktrottete, dachte ich an die Serviererinnen, denn eigentlich war es ihr Plattenspieler gewesen, ein alter Victrola mit Kurbel zum Aufziehen. Sechs oder sieben Jahre lang hatte er vergessen in einem der Abstellräume im ersten Stock gestanden. Schwer zu glauben, dass sie schon so lang fort waren. Wenn ich ein Bild mit exotischen Vögeln sehe, muss ich an die Serviererinnen denken. Sie waren leuchtend und frei wie Flamingos.
Ich fragte Abel Slaw, ob es ihm etwas ausmachte, wenn ich den Plattenspieler in der Werkstatt deponierte, damit ich den nächsten Zug nach Cold Flat Junction nehmen konnte. Slaws Autowerkstatt lag am Highway genau gegenüber vom Bahnhof.
»Solange du wiederkommst und ihn abholst, hörst du?« Er war immer miesepetrig, wenn er mit mir redete.
Nein, Mr Slaw , wollte ich schon sagen, ich komm nie wieder. Ich fliege auf und davon, ab ins süße Jenseits . Aber ich wollte nicht hören, wie er sich über meine freche Antwort beschwerte.
Es waren wohl die Serviererinnen, die mich auf den Gedanken brachten davonzufliegen. Ich überlegte, was das süße Jenseits eigentlich war. Der Himmel? Das Paradies? Ob sie dahin wohl gegangen waren, fragte ich mich.
17. KAPITEL
Ich hatte Geld dabei und beschloss, zur Abwechslung mal eine Fahrkarte nach Cold Flat Junction zu lösen. Es war bloß zwölf Meilen von Spirit Lake und kostete nicht viel, und es war einfacher als als blinder Passagier.
Ich lächelte und reichte dem Schaffner mein Geld hoch, nachdem der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte. Es war derselbe Schaffner wie immer in diesem Zug, obwohl er sich anscheinend nicht an mich als blinden Passagier erinnerte.
Er entwertete die Fahrkarte und sagte: »Na, kleine Lady, was hast du denn heute so vor?« Er gab mir meine Fahrkarte zurück.
»Ich will meine Grandma besuchen.« Ich musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen, als bräuchte ich eine Brille, wäre aber zu arm, um mir eine zu kaufen. »Die ist ganz arg krank.«
Durch die Bewegung des Zuges schwankte er leicht. »Das tut mir aber leid. Wohnt sie in Junction? Ich kenn dort den ein oder anderen.«
Dann konnte sie nicht dort wohnen! Ich dachte an die Simples, von denen ich den Leuten im Windy Run Diner erzählt hatte. Die Simples existierten natürlich gar nicht, einmal hatte ich sie aber irgendwie gebraucht. Ich ging die Namen der Familie durch und überlegte, ob ich eine Großmutter erwähnt hatte. Mir fiel von der Familie keiner mehr ein außer dem zurückgebliebenen Sohn. »Sie heißt Alberta Simple. Die wohnen ein Stück außerhalb von Cold Flat Junction, auf einer Farm. Kennen Sie wahrscheinlich nicht. Na, jedenfalls ist Grandma Alberta gestürzt und hat sich den Kopf angeschlagen. Aber schlimm.«
»Das tut mir aber leid«, wiederholte er, schwankte leicht und schaute den Gang hinunter, offensichtlich wollte er weiter.
Ich würde ihn aber nicht lassen. »Ja, ist es. Die Simples haben so schon genug Probleme, auch ohne dass sie sich was getan hat. Sie ist nämlich die, die sich um Miller Simple kümmert. Der ist zurückgeblieben und irgendwie gefährlich.«
»Was du nicht sagst! Aber jetzt muss ich …«
»Einmal, da hat Miller …« Hieß er so?
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