Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
»Einmal, da hat er seinem Daddy mit einem Stuhlbein eins auf die Rübe gegeben, hat einfach das Bein vom Stuhl abgerissen, und jetzt muss man richtig gut auf ihn achtgeben.«
Der Schaffner tippte sich zum Abschied an die Mütze, statt winke, winke. »Muss mich um meine Fahrkarten kümmern.«
Ich schaute ihm nach, als er rasch den Gang entlangeilte. »Bye-bye!«, rief ich.
Na ja, er hatte mich ja schließlich gefragt, oder?
Als der Zug in Cold Flat Junction einfuhr, trat ich auf den Bahnsteig und blieb dort stehen, bis der Zug wieder weggefahren war. Dann schaute ich hinüber zu der dunklen Baumreihe in der Ferne. Ich schaute sie mir immer eine Weile länger an, als jemand Bäume sonst anschauen würde. Aus dieser Entfernung wirkten sie manchmal graugrün und manchmal marineblau, und die Linie war absolut pfeilgerade. Sie standen fast da wie in Habachtstellung, wie aufgereihte Soldaten. Ich musste an Soldiers Park denken. Ich vermutete, dass hinter ihnen das gleiche öde Land lag wie zwischen ihnen und den Bahngleisen, wusste es aber nicht sicher. Sie verbargen wohl ein Geheimnis, das mich magisch anzog.
Zuerst hatte ich mir gedacht, ich würde Gloria Spiker Calhoun noch mal aufsuchen, aber dann fand ich, nein, eigentlich sollte ich mit ihrer Freundin, dieser Prunella Sowieso, reden. Sie hatte ja Prunella angerufen. Es war einfach ein zu großer Zufall: der Telefonanruf und dass das Baby während dieses zwanzigminütigen Anrufs entführt worden war.
Prunella. Dass ich mir diesen Namen gemerkt hatte, lag daran, dass ich ihn noch nie gemocht hatte. Ich würde keine Prunella sein wollen. Ree-Jane würde mich Prune-Face nennen, Dörrzwetschgen-Knittergesicht.
Wieder musste ich also im Windy Run Diner Station machen, um etwas über Prunella zu erfahren. Ich wusste nicht mal, wo sie wohnte. Am besten würde ich mir das bei einem Stück Kuchen durch den Kopf gehen lassen. Vom Bahnhof führte mich der sandige Pfad also zum Diner.
Es war angenehm, fast würde ich sagen, tröstlich, im Windy Run dieselben alten Gesichter zu sehen, drei an der Theke, eins in einer Tischnische.
»Ei, guck mal, was da reingeschneit kommt«, sagte Don Joe mit einem Schnieflachen.
» Sieh mal einer an«, fügte Billy hinzu, der sich zum Thema Begrüßung auch nicht lumpen lassen wollte. Evren, auf der anderen Seite von Don Joe sitzend, lächelte bloß.
Louise Snell wischte gerade die Theke sauber. »Hallo, Schätzchen. Wie geht’s dir denn heute?«
»Okay.« Ich kletterte auf meinen Stammhocker, den neben der Vitrine mit den Kuchen und Torten. Zwischen den anderen stand eine neue Kreation, ein blassrosa Biskuitkuchen.
Louise Snell bemerkte meinen Blick und sagte lächelnd: »Wir haben heute Erdbeer-Biskuittorte da. Ist wirklich gut.«
»So sieht sie auch aus.« Ich versuchte, die näselnde Aussprache von Junction hinzukriegen.
Mervin, der normalerweise mit seiner Frau in einer der mit rotbraunem Kunstleder bezogenen Nischen saß, erkundigte sich, wie ich denn mit meiner Geschichte für die Zeitung vorankäme. Mervin war vermutlich der einzige Gast, der nicht das Gefühl hatte, er müsse sich über andere lustig machen, bloß um zu beweisen, dass er lebte.
Er fuhr fort: »Ist jedenfalls das Beste, was ich seit Langem in der Zeitung gelesen habe.«
Irritiert, dass ihm das nicht eingefallen war, sagte Billy (als ob ich dran schuld wäre): »Hat die Polizei drüben in La Porte denn noch nich rausgekriegt, wer Fern Queen umgebracht hat? Meine Güte, wie lang is das jetzt her, dass sie die erschossen habn? Sechs Wochen, hä?«
»Drei ist es her«, sagte ich.
Don Joe meinte: »Die glauben doch wohl nich immer noch, es war Ben, oder?«
Ich konnte ihnen ja schlecht sagen, was ich über den Mord an Fern wusste, vor allem, weil es nicht offiziell war und auch weil sie mir dann so ein Loch in den Bauch fragen würden, dass ich den ganzen Tag hier säße. Immerhin hatte ich noch was anderes zu tun im Leben.
Ich antwortete aber doch, weil Louise Snell mir meinen Kuchen hingestellt hatte – mit kleinen roten Tupfen drin, Erdbeerstückchen. »Also, Ben Queen steht immer noch unter Verdacht, es deutet aber nichts auf ihn hin, ich meine, keine konkreten Beweise, nichts, was belegt, dass er in der Nacht an der White’s Bridge war.« War er auch nicht. Das wusste ich, denn die Person, die Fern ermordet hatte, hätte auch mich beinahe umgebracht: Isabel Devereau. Sie hatte mir gesagt, dass sie es war, weil sie dachte, ich würde es niemandem
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