Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Geld und gute Worte dazu kriegen, nicht dieses gekünstelte, fürs Fotografieren reservierte Lächeln aufzusetzen.
Wer waren sie? Ich bekam fast Schuldgefühle, dieses Medaillon zu haben, bei dem jemand behutsam ein Bildchen hinter das Glas geschoben hatte. Es ärgerte mich, dass das Medaillon zwischen andere Schmuckstücke, Schals und Handschuhe, Briefe und Dokumente geraten war, die alle in verschiedenen Koffern verteilt waren, als wäre das alles gar nicht wichtig, als hätte meine Mutter sich einfach nicht die Zeit genommen, es sorgsam zu verwahren.
Sie musste sich ja noch um dieses ganze Hotel kümmern: als Köchin, Näherin, Möbelrestauratorin. Wenn man so viel zu tun hat, findet man vermutlich keine Zeit, herumzusitzen und zwei Leute auf einem vergilbten Foto zu bemitleiden.
Trotzdem machte es mich wütend, denn wenn ich das Medaillon nicht entdeckt hätte, wäre es wahrscheinlich für immer verloren gewesen. Mir tat alles leid, was darauf angewiesen war, dass ich es fand.
Ich hätte Auroras Idee einfach in den Wind schießen sollen, aber ich konnte nicht. Ich versuchte, mir eine Szene vorzustellen, in der ein Baby verloren ging. Aus Vergesslichkeit? (»Wo hab ich denn den Kinderwagen stehen lassen? Der war doch genau hier.«) Einer Art von Gedächtnisschwäche? (»Was denn für ein Kinderwagen?«) Doch wenn der Wagen vor dem Lebensmittelgeschäft stehen gelassen worden war (was oft vorkommt) und das Baby gestohlen wurde, dann wäre das ja auch eine Entführung.
Ich hörte Auroras insistierende Stimme aufzählen, was alles verloren gehen konnte: eine Million Dollar, ein Tennismatch, Freunde … Eine Wette.
Eine Wette!
Ein Schauer durchfuhr mich. Aber das wäre unmöglich. Es war das Schockierendste, was ich mir vorstellen konnte. Dann hörte ich Mr Gumbrels Stimme: »Der Junge war ein Spieler. War ständig im Pokerclub, so hieß das damals. Der verwettete alles, bloß um weiter spielen zu können. Hatte wohl einen Haufen Schulden.«
In den Westernfilmen, die ich samstagnachmittags sah, spielten Männer im Saloon Karten, und wenn sie kein Geld mehr hatten, verwetteten sie lauter verrückte Sachen wie ihr Pferd, ihr Haus, ihr »Hab und Gut« – alles Mögliche. Ein Leben habe ich einen Spieler aber nie verwetten sehen.
Ich saß lange da und dachte über dieses zarte kleine Leben nach, dieses irrlichternde Trugbild von einem Baby, das zwischen Dasein und Fortsein hin und her schwebte, wie die Hirsche, die aus Dunst und Nebel um das Belle Ruin auftauchten und wieder darin verschwammen. Es war, als schwebte man mit seinem Leben zwischen etwas Solidem, Hartem, wie Miss Bertha an ihrem Tisch im Speisesaal, und etwas unsäglich Luftigem, wie wenn Will seine Lippen bewegte und es bloß so schien, als kämen Wörter heraus. Ein Ton, der auf sich selbst wartete.
Da fiel mir noch ein anderer Ausdruck ein, den Aurora mal verwendet hatte: Wechselbalg. Das war, wenn jemand gegen jemand anders ausgetauscht wurde, normalerweise wohl Babys, weil es ja ziemlich schwierig wäre, einen Erwachsenen gegen einen anderen auszutauschen, ohne dass es jemand spitzkriegte.
Dies führte mich zu der Frage, was denn wäre, wenn Fay Slade ihnen gar nicht gehört hatte? Ich richtete mich kerzengerade auf. Wenn Imogens Baby im Krankenhaus gegen ein anderes ausgetauscht worden war und die echten Eltern es herausbekommen und ihr eigenes Baby zurückgefordert hatten? Morris und Imogen wollten nicht, dass Mr Woodruff die Identität des Babys herausbekam, und inszenierten deshalb die Entführung.
Doch ich hatte vergessen: Mr Woodruff hatte die Ermittlungen ja nicht gewollt. So hätte er nicht reagiert, wenn meine neue Idee stimmen würde. Aber vielleicht wollte er auch nicht, dass es jemand erfuhr. Wieso? Weil es ihm peinlich war? Weil er sich gedemütigt fühlte? »Alter Narr. Die ganze Zeit denkst du, das Baby ist deine Enkelin, kaufst ihr Sachen, schenkst ihr Geld.« Nein, Moment, ich vergaß ganz, dass Fay ja erst vier Monate alt war, als sie verschwand.
Ich skizzierte die Geschichte im Geiste. Krankenhaus: Ein Fehler passiert, zwei Babys werden den falschen Eltern gegeben …
Nein. Das hätte wohl kaum in einer inszenierten Entführung geendet.
Krankenhaus: Imogens Baby ist ein Abgang (was auch immer das heißt), oder es stirbt. Und Imogen stiehlt dann einer anderen Frau ihr Baby.
Ein Baby stehlen ist so schlimm, dass es vermutlich in einer gewaltsamen Aktion, etwa einer Entführung, gipfeln würde. Wie sie des anderen Babys
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