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Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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wieder in die Hand und streckte es mir hoffnungsvoll hin.
    »Nenn mir einen guten Grund, wieso sie so tun sollten, als sei die Kleine bei ihnen, wenn es gar nicht so war, und ich bring dir Nachschub.«
    Aurora starrte ihr Glas an, als könnte es mit genug Konzentration dazu gebracht werden, von allein in die Küche hinunterzumarschieren. Ich vermute aber, dass sie einfach überlegte.
    Dann hob sie den Blick zu mir. Ihre Augen waren grau und glitzerten, als wäre die Regenbogenhaut eine Mischung aus Stahl und Katzensilber.
    »Vielleicht ist sie verloren gegangen.«
    Ich zuckte gequält zusammen und hätte fast das Tablett unter der Achselhöhle fallen gelassen. »Verloren gegangen? Wie soll denn ein Baby verloren gehen?«
    »Genau so wie man eine Million Dollar verliert oder ein Tennismatch oder seine Freunde.«
    Als ich bloß dastand und dämlich guckte, hielt sie das Glas schräg ins Licht und bewegte es hin und her. »Oder eine Wette.« Dabei lachte sie hinterhältig.
    Verloren , überlegte ich. Ich konnte Mr Roots heisere Stimme hören, mit der er Robert Frosts Gedicht las – über das baumreiche Obststück in Sicht, wenn niemand kommt mit einem Licht.
    Es war so traurig. Und es hörte sich an, als wäre es reiner Zufall, wenn irgendetwas gerettet wurde.
    Es hörte sich, wie Aurora gesagt hatte, nach einer Wette an.

21. KAPITEL
    Es machte mich dermaßen traurig, dass ich nicht vorsichtig war, als ich den Southern Comfort aus dem hinteren Büro holte. So traurig, dass ich einfach an Ree-Jane vorbeilief, ohne mir was auszudenken, womit ich sie ärgern konnte. So traurig, dass ich fast Tränen in den Orangensaft geweint hätte. So traurig, dass ich meinen Nachtisch vergaß. (Was es war, vergaß ich aber nicht – Birnen-Pekannuss-Tarte mit Butterkrokant-Eiscreme – ich vergaß einfach, ihn zu essen.)
    Während ich mein Abendessen verspeiste, brachte Walter den frischen Cold Comfort zu Aurora Paradise hinauf. Ich stellte meinen Teller für Walter auf die Spülmaschinenplatte und ging durch die Seitentür über die Kiesauffahrt zum Rosa Elefanten. Das Gras vor der Tür war ungeschnitten, kräftig und nass. Die Tür war dick und knarrte. Ich musste mich bücken, um hineinzukommen.
    Der kleine Raum befand sich unter dem Speisesaal und beherbergte lediglich meine Sachen, zusammen mit Mäusen und Spinnweben. Der Hotelkater kam manchmal vorbei, entweder um hier zu schlafen oder um die Mäusesituation zu erkunden.
    Hauptsächlich hatte der Raum früher als Veranstaltungsort für Cocktailpartys gedient. Daher sein Name: Rosa Elefant. Die rauen Stuckwände waren natürlich rosa gestrichen. Früher hatte ein Bild da gehangen, von einem rosa Elefanten mit Partyhütchen, der eine Champagnerflasche geschwenkt hatte, das war aber inzwischen verschwunden.
    Es gab einen dunklen Holztisch, eine Art Picknicktisch mit Bänken. Überall standen Flaschen herum, in die ich Kerzen gesteckt hatte, die mittlerweile zu Stummeln heruntergebrannt waren. Ich hatte auch eine Laterne, die genug Leselicht spendete und für interessante Schatten an der Wand sorgte. Der Raum ähnelte einer Höhle, aber einer behaglichen.
    Auf einem Regalbrett stand auch die Whitman’s-Bonbonschachtel, in der ich einige Dinge aufbewahrte, die ich besonders gern mochte, wie etwa ein altes Foto von den Schwestern Devereau und Mary-Evelyn sowie ein Halstuch, das Ben Queen mir geschenkt hatte, als wir an der Quelle in Crystal Spring gewesen waren.
    Ich zog ein Goldmedaillon hervor, das ich im Abstellraum bei den Sachen meiner Mutter gefunden hatte. Ich könne es haben, sagte sie. Es war gar nicht ihres, sie wusste auch nicht, woher es stammte. Innen drin war ein braunes Foto von einem Mann und einer Frau. Wer die beiden waren, wusste meine Mutter nicht.
    Mich überkam wieder so ein Gefühl von Trauer, Trauer um das unbekannte Paar auf dem Bild. Die Frau trug einen Strohhut zwischen zwei dunklen Haarwippen, er guckte ohne zu lächeln durch kleine runde Brillengläser. Sein Haar war in der Mitte gescheitelt und feucht benetzt mit Haarwasser oder Regen.
    Ob es eine Familie oder Freunde gab, die sich noch an sie erinnerten?, überlegte ich. Meine Mutter hatte das Medaillon an sich genommen, doch es waren wildfremde Leute. An Hut und Frisur und dem hochgeschlossenen Kleid und auch daran, dass sie nicht lächelten, war zu erkennen, dass das Bild vor langer Zeit aufgenommen worden war. Damals lächelten die Leute nicht in die Kamera. Heute konnte man einen nicht mal durch

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