Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
übrig.«
»Wahrscheinlich nicht. Das gab auch Ärger. Ich glaube, er war so eine Art Buchhalter, und da war Geld weggekommen.«
»Sie meinen, er hat es gestohlen?«
»Sagte man. Na, nehmen wir mal ein Beispiel: Jane Davidow ist in eurem Hotel als Buchhalterin angestellt …«
Das war der Witz des Tages!
»… und wenn jetzt, sagen wir, ein Gast hundert Dollar für sein Zimmer bezahlt, trägt Jane achtzig in die Bücher ein und behält zwanzig für sich.«
Die Art von »Buchhaltung« konnte ich mir bei ihr schon vorstellen. »Kam er ins Gefängnis?«
»O nein. Man konnte ihm nie etwas nachweisen.«
»Aber kannten Sie ihn denn persönlich? Ich meine, gut genug, dass Sie einschätzen konnten, wie er war?«
»Ja. Morris schien mir der vollendete Charmeur. Der charmanteste Mann, der mir je begegnet ist.«
»Ein Playboy.«
Er lächelte und verdrückte sein drittes Brownie.
30. KAPITEL
Wieder in der hintersten Tischnische im Rainbow Café schrieb ich:
Die Geschichte der Devereaus endet nicht hier, sie beginnt nicht einmal hier.
Ich hielt inne. Das klang irgendwie bekannt – es hörte sich an wie etwas, das ich schon gelesen oder gehört hatte. Weil die einzigen Schriftsteller, mit denen ich derzeit vertraut war, der Autor der Perry-Mason-Krimis und William Faulkner waren, tippte ich darauf, dass William (»Billy«, wie Dwayne ihn nannte) es gesagt hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass es nicht von Perry Mason war. Mir blieb nichts anderes übrig, als Dwayne zu fragen.
Ich las meinen ersten Satz noch mal und beschloss, ihn so stehen zu lassen, weil er richtig gut war. Es war schon schwer genug, wie jemand anders zu schreiben, geschweige denn sich alles selber auszudenken.
Ich betrachtete den leeren Sitz mir gegenüber, die leere Luft, die Decke, die Wände. Ich hörte Geräusche, die zu mir nach hinten drangen, das Klappern von Geschirr, die Stimme von Jo Stafford, die eine Karaffe mit irgendwas Süßem ausleerte. Ah, diese Leere!
»Die Schwestern Devereau lebten ein Leben von großer Leere.« Nein. »Ein leeres Leben. Leere Leben.« Das wusste ich aber doch gar nicht. Und Rose hatte ganz bestimmt kein leeres Leben geführt. Iris auch nicht. Ich sollte eigentlich sowieso bloß von Isabel sprechen. Sie war die Mörderin. Ja, eine Mörderin konnte ein leeres Leben führen – in ihrem Fall war das ja genau das Problem. Oder könnte es sein. »Isabel Devereau lebte ein leeres Leben.« Ich wollte hinzufügen: »und das ließ sie an mir aus«, aber das klang zu … Ich runzelte die Stirn und tippte mit dem Bleistift auf den Tisch. Zu heulsusig. Darum ging es ja auch nicht. Obwohl sie es ja tatsächlich an mir ausgelassen hatte. Ich schrieb: »und das musste sie an irgendjemandem auslassen.« Es war klar, an wem, vor allem, wenn ich » irgendjemandem« unterstrich. Es drückte dasselbe aus, aber ohne die Heulsusigkeit.
Wie konnte ich das mit Beginn und Ende verbinden? Ich legte das Kinn in die Handkuhle und hörte, wie Shirl jemanden anschrie, vermutlich Wanda, während gerade »You Belong to Me« aus der Jukebox verklang.
Ich wollte bloß eins, nämlich zum nächsten Kapitel gelangen. »Die Geschichte endet hier nicht, wie ich schon sagte.« Ich strich »wie ich schon sagte« durch, weil es sich wie ein Lückenfüller anhörte. Suzie Whitelaw hatte es immer mit den »Lückenfüllern«. Faulpelze schrieben so.
»Denn die Devereaus hatten einen Bruder …« Aber halt! Was wäre der für Iris und Isabel gewesen? Ein Halbhalbbruder? Der Vater von Morris war ein Slade. Der von Rose ein Souder. Weil ich daraus nicht schlau wurde, schrieb ich: »Alle Familien sind kompliziert – diese hier ist auf ihre eigene Weise kompliziert.« Auch das hörte sich bekannt an. War es wieder William Faulkner? Nein. Ein Fall von Perry Mason? Ach, darüber würde ich später nachdenken. Doch der Halbbruder, Morris, war der Halbbruder von Rose . Morris Slade und Rose hatten dieselbe Mutter, aber verschiedene Väter. Was war Morris also für die anderen Devereau-Schwestern?
Den Kopf in die Hände gestützt, hatte ich das Gefühl, das dauerte hier Stunden . Es gab Leute auf dieser Welt, die dafür bezahlt wurden, dass sie aus Familien schlau wurden, und ich gehörte nicht dazu. Also würde ich mich anderen Dingen zuwenden.
»Der gutaussehende und charmante« (für den Fall, dass er das hier las) »Morris Slade heiratete in die reiche«, nein, »wohlhabende Familie Woodruff aus New York City ein. Morris«, nein, »Mr Slade
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