Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Lächeln war ebenso zerknittert wie ihr Rock. »Hab’s jedenfalls versucht.« Sie klang furchtbar selbstzufrieden, sogar noch mehr als Aurora Paradise, wenn die mir wieder mal von einem Verehrer erzählte, der sie anflehte, die Seine zu werden. Ich überlegte, ob es am Ende immer um Liebe ging (»Sex«, sollte ich eigentlich sagen, aber darüber wusste ich nicht genug Bescheid), um Liebe und um Geld.
»Bei Morris war es so, dass er nie lange genug an etwas dranblieb, um es richtig zu lernen. O ja, er war charmant und so …«
Morris Slade spukte ihr wohl ganz schön im Kopf herum. Und ich fragte mich, wo um alles in der Welt er bloß den Charme herhatte, denn auf der Souder-Seite der Familie hatte ich davon nichts bemerkt, zumindest nicht in Souders Apotheke – abgesehen von der »Abend in Paris«-Deko in der Schaufensterauslage.
»Ja, ja, Morris«, fuhr sie fort, »der hielt sich für den Gipfel der Schöpfung.«
Gipfel der Schöpfung! Ich schrieb es dermaßen schwungvoll hin, dass die Serviette riss. Das musste unbedingt in meinen Bericht! Sie redete weiter.
»… und man hätte doch gedacht, gewisse weibliche Mitglieder des Lehrkörpers wären vernünftiger und hätten sich von dem Jungen nicht weichklopfen lassen, mit seinen kleinen Weihnachtsgeschenken, dem Parfüm und so was …«
Vermutlich bei Souder mit Rabatt gekauft oder einfach aus dem Schaufenster geklaut. Doch hätte ich ihr auch das Gegenteil davon geglaubt: dass sämtliche Mädchen ihm hinterhergelaufen wären und selbst die Lehrerinnen vor ihm gekatzbuckelt hätten. Wenn er damals auch nur annähernd so war wie heute. Ein paar stille Sekunden verharrte ich mit diesem Bild von ihm vor meinem geistigen Auge und ließ dann los.
»Durchschaut haben sie ihn aber nicht«, meinte dann Sheba. »O nein, ich dagegen schon.«
Da wusste ich schlagartig: Sheba hatte kein Eau de Toilette Marke »Abend in Paris« oder sonstige »kleine Geschenke« von Morris Slade bekommen. Das war es, was gegen ihn sprach! Schon traurig, aber irgendwie hielt mein Mitleid mit Sheba sich in Grenzen.
Sie fuhr fort: »Wenn er wieder fehlte, würde er meinen Kurs nicht bestehen, sagte ich zu ihm – und verbat mir seine lahmen Ausreden.«
Mir war aufgefallen, dass Mr Queen den Mund aufgemacht hatte, um etwas zu sagen, ihn dann aber wieder zugemacht hatte. Dass Sheba Queen den jungen Morris Slade geradezu unwiderstehlich gefunden hatte, war klar, obwohl sie fünfzehn oder zwanzig Jahre älter war als er. Ich versuchte, ihren Redeschwall einzudämmen: »Was glauben Sie denn, Mrs Queen, was mit Morris Slades Baby damals in jener Nacht im Belle Ruin passiert ist? Darum geht es nämlich hauptsächlich in meiner Geschichte.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wie wahrscheinlich die meisten glaube ich, das Baby wurde gegen Lösegeld festgehalten, denn Morris Slades Schwiegervater war ja schließlich so reich. Darum hat Morris geheiratet – wegen des Geldes.«
George Queen kicherte. »Gestern hast du ihn ja noch recht nett gefunden.«
»Herrgott noch mal, George. Ich wollte eben höflich sein.« Die Röte zog sich vom Hals herauf über ihr Gesicht.
Ich klopfte lässig mit dem Bleistift gegen die Armlehne. »Vielleicht wollte er Sie einfach aus alter Anhänglichkeit besuchen.« Ich lächelte nicht sehr überzeugend.
»Der?« Sheba wischte die alte Anhänglichkeit kurzerhand beiseite. »Mit Sentimentalität hat Morris Slade es noch nie gehabt.«
Dass das stimmte, bezweifelte ich und versuchte, Ralph Diggs ins Gespräch einzuflechten. »Vielleicht glaubt er, das Baby ist irgendwo noch am Leben, und will es ausfindig machen.«
»Hmm«, brummte George.
Sheba winkte bloß wieder ab. »Das ist doch lächerlich. Warum sollte er das denn tun?«
George meinte: »Er wollte mit Ben sprechen.« Nachdenklich beugte er sich in seinem Sessel vor, die Hände vor sich locker verschränkt.
Seine Stimme verebbte, und bevor er sie wieder erheben konnte, war seine Frau abrupt aufgestanden, um in einem kleinen Anfall von Gastfreundlichkeit nun Milch und Plätzchen anzubieten.
Ich lehnte dankend ab, sie solle sich doch bitte keine Umstände machen.
»Ach, das sind doch keine Umstände.« Und schon war sie wie ein steifer Besen davongewitscht.
»Sie haben gerade überlegt, Mr Queen?«
Er schüttelte den Kopf und musterte mich, als wäre er überrascht, dass ich immer noch da war. »Ist dieses ganze Gerede denn nötig für die – wie heißt es gleich?«
»Die Hintergrundgeschichte.«
»Ja,
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