Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
dafür.«
Nein, aber wahrscheinlich für die Untergrundgeschichte.
Es war Zeit für mich zu gehen. Vor den Plätzchen.
Vielleicht hatte der Mord an Rose nun Morris Slade wieder hierhergezogen, und er wollte Ben Queen deswegen sprechen.
Ich grübelte. Und Ralph Diggs?
Irgendwie hatte der von den Ereignissen im Belle Ruin erfahren. Mir war klar, dass ich damit vorschnelle Schlüsse zog, wenn ich annahm, der Bursche wusste, dass er vor zwanzig Jahren aus dem Hotel entführt oder weggebracht worden war.
Denn wie hatte er davon erfahren können? Dafür hätte er zunächst einmal herausfinden müssen, dass der Mann und die Frau, die er immer für Mom und Dad gehalten hatte, nicht seine Eltern waren. Aber wie? Ganz schlicht über ein belauschtes Gespräch?
»Sollten wir es ihm nicht sagen?«
»Warum? Warum sollten wir?«
»Sollte er denn nicht erfahren, dass wir nicht seine richtigen Eltern sind?«
Und so weiter.
Denn ich wusste, dass er nicht der war, für den er sich ausgab, und dass er diesen Job angenommen hatte, damit er sich bei uns herumdrücken konnte, vielleicht nicht unbedingt bei uns im Hotel Paradise, sondern in Spirit Lake. Oder vielleicht La Porte. Es ging ihm darum, hier in dieser Gegend zu sein. Ich wusste, dass er sich ein Weilchen bei uns aufhalten wollte.
Und dass er ein spektakuläres Motiv dafür hatte.
47. KAPITEL
Carl Mooma war vermutlich eine zuverlässigere Quelle als Gloria Spiker Calhoun. Trotzdem wollte ich noch einen kleinen Aspekt klären und dafür kurz Gloria aufsuchen. Eine Viertelstunde bis zwanzig Minuten hatte ich nämlich noch Zeit, bis der Zug kam.
Das Haus der Calhouns war das hübscheste blaue Haus, das ich je gesehen hatte. Vielleicht lag es einfach daran, dass die Häuserfarben in Cold Flat Junction eine angenehme Abwechslung zu den viktorianischen weißen Holzbauten mit grünen Fensterläden in Spirit Lake waren. (In Spirit Lake war allerdings viel mehr Geld als in Junction.)
Als ich den von leuchtenden Zinnien gesäumten Weg zu dem blauen Haus hinaufging, überlegte ich, ob ich Glorias Mann, Cary Grant Calhoun, vielleicht mal zu Gesicht kriegen würde. Ich wollte mich überzeugen, ob er tatsächlich so aussah wie Cary Grant, der Filmstar, den seine Mutter so angehimmelt hatte, oder ob er so hässlich war, wie die Leute im Windy Run Diner behauptet hatten. Vermutlich sah er einfach ganz gewöhnlich aus.
»Hallo, Gloria«, sagte ich, als sie an die Tür kam.
»Ach, hallo, Emma. Komm doch rein. Gerade wollte ich ein Blech mit Zitronenplätzchen aus dem Ofen holen!«
Als ob das eine ganz tolle Neuigkeit wäre! Für alle Hausfrauen in Cold Flat Junction waren Plätzchen anscheinend der Höhepunkt des Tages. Aus Höflichkeit würde ich wohl eins essen müssen. »Au, fein«, sagte ich und marschierte mit ihr nach hinten in die nach Zitrone duftende Küche, die so picobello aussah, dass man hätte meinen können, es würde nie was darin gebacken. »Makellos« war der passende Ausdruck: leergeräumte Arbeitsfläche, sauber geschrubbtes Spülbecken und blank geputzte Armaturen.
Gloria hatte die Backofentür geöffnet, und das Plätzchenblech, das sie nun herauszog, enthielt perfekte, kreisrunde, blassgelbe Plätzchen. Ich mochte Zitrone eigentlich gar nicht, außer in den Zitronebaisertorten meiner Mutter. Und Zitronenplätzchen machte sie nie.
Gloria schob fast die Hälfte des Plätzchenblechs auf einen Glasteller im gleichen Blauton wie das Haus. In diesem Haus war genauso alles streng in Blau gehalten, wie bei Prunella Rice alles braun war. Wussten die beiden eigentlich, dass sie im edlen Wettstreit lagen?
Sie hielt mir den Plätzchenteller hin.
»Ach, ich würde ja gern eins nehmen, aber wissen Sie, ich hab Diabetes. Speziell Backwaren soll ich gar nicht essen. Also Kuchen und Kekse und so.«
Die arme Gloria! Sie schlug die Hand vors Gesicht, als hätte sie mich zu etwas Tödlichem verführt.
Von zu viel Zucker starb man als Diabetiker, vermutete ich, in dem Punkt war mein Denken aber etwas wirr. Ich wusste nur, dass man mit dieser Krankheit Spritzen bekommen musste. »Oje! Es ist schon nach elf und gleich Zeit für meine Spritze«, sagte ich.
Gloria sah aus, als wollte sie gleich einen Arzt verständigen.
»Ach, keine Sorge. Das kann bis Mittag warten.« Ich setzte mich auf einen Küchenstuhl und tat, als würde mir schon vom süßen Geruch allein schwindlig.
»Du musst Spritzen kriegen? Du meinst, Insulin?«
»Ja, stimmt, Insulinspritzen wegen Diabetes.
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