Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Die verpasse ich mir aber selbst.» Ich strich mir den Rock glatt. »Ich wollte Sie bloß etwas fragen.«
Sie setzte sich ebenfalls auf einen blitzblank gescheuerten Kiefernholzstuhl. »Schreibst du immer noch an der Geschichte über das Belle Ruin?«
»Ganz genau. Erinnern Sie sich, als Sie bei den Slades im Hotelzimmer waren? Und die Ihnen sagten, Sie sollten das Baby nicht stören?«
Gloria nickte. »Das hat sie zu mir gesagt. Das Baby sei irgendwie krank, sagte sie, und würde wahrscheinlich bloß weiterschlafen.«
»Denken Sie noch mal genau nach. Sie hatten doch gesagt, Mrs Slade meinte, Sie sollten sie nicht stören, stimmt das?»
Gloria runzelte die Stirn. Sie ließ sich Zeit mit der Antwort, als befürchtete sie eine Falle. Da lag sie auch richtig, aber nicht von mir.
»Ja, das hat sie wohl gesagt.«
»Ich meine bloß: Sagte sie, Sie sollten › sie nicht stören‹? Oder: ›Stör Fey nicht‹? Oder vielleicht bloß ›das Baby‹?«
Etwas entspannter (die Frage schien ihr wohl unverfänglich), schürzte sie bedächtig den Mund und sagte: »Hm, ich glaub, sie sagte bloß, ich soll das Baby nicht stören, oder nein … ›Das‹, sagte sie. Jetzt erinnere ich mich wieder. Sie sprach von dem Baby als ›das da‹. Ganz schön gefühlskalt, findest du nicht?«
Allerdings, doch das verwunderte mich nicht. Was Imogens Kälte anbelangte, hatte auch ich keine Zweifel. Ich war mir sicher, dass Gloria sich an jeden einzelnen Moment ziemlich deutlich erinnerte. Wenn man bedachte, welche kriminelle Rolle sie dabei spielte.
Ich dankte ihr und sprang auf – »meine Insulinspritze, Sie wissen schon« – und empfahl mich eilends.
48. KAPITEL
Wieso musste sich Ree-Jane ausgerechnet diesen Zeitpunkt aussuchen, um den Verstand zu verlieren?
Obwohl Irre normalerweise ihr Schicksal auferlegt bekommen, musste bei Ree-Jane Berechnung im Spiel gewesen sein.
Eins muss ich sagen: Es war wirklich aufsehenerregend, wie sie in ihrem feingefältelten, rhabarber-pink-farbenen Heather-Gay-Struther-Kleid über die Veranda wirbelte und dabei »Bye Bye Blackbird« sang.
Das Singen hatte ich schon gehört, bevor ich bei der Veranda anlangte. Sie sang und lachte und hielt dabei seitlich ihre Rockzipfel hoch.
»Was soll das denn?«, fragte ich laut und vernehmlich.
Sie gab keine Antwort. Ich wusste aber, dass sie mich gehört hatte, denn ihr Blick glitt seitlich weg, und ihr irres Lächeln wurde breiter. Ich stand da und schaute zu, bis sie mit dem Teil fertig war, in dem es hieß, keiner liebe sie, keiner verstehe sie ( Wie wahr !, dachte ich dabei). Dann schwenkte ich ab in Richtung Küche, um die Salate vorzubereiten.
Dort war Vera, mit weißem Kragen und ebensolchen Manschetten. Sie erinnerte mich an Bilder von alten englischen Grabmalen, wo der Ritter und seine Lady in Steinplatten gehauen waren, mit scharfen, hageren Gesichtern.
Wir bekamen bestimmt Dinnergäste. »Wer kommt?«
»Die Baums!« Vera sagte es, ohne zu lächeln.
»Wie viele?«
»Acht. Ich schaff das schon.«
Sie schaffte auch achthundert, so tüchtig war sie. Mir war es gerade recht. Ich reihte die Salate nacheinander auf, zehn Stück, auch zwei für Miss Bertha und ihre Begleitung.
Meine Mutter konzentrierte sich auf die Küchenmaschine. Sie gab tropfenweise Öl in die Schüssel, demnach handelte es sich um Roquefortdressing. Bei dieser Prozedur durfte sie nicht gestört werden, ebenso wenig wie Agatha Christie, wenn sie bei einem ihrer Bücher den Schluss verfasste, den Miss Flytes sterbende Freundin nie las. Ich wartete also ab, bis sie fertig war, dann fragte ich: »Was ist eigentlich mit Ree-Jane los?«
Sie zuckte die Achseln. »Wir wissen es nicht.« Sie drückte einen kleinen Hebel zur Seite, um die große Mixerschüssel zu lösen und ihren Inhalt in zwei große Einweckgläser zu gießen.
Das »Wir wissen es nicht« verriet mir, dass es darüber eine Diskussion gegeben hatte, sie also fanden, dass es mehr war als Ree-Janes übliches Getue. Ich wollte gerade mitteilen, dass Ree-Jane wie ein wildgewordener Derwisch auf der Veranda herumwirbelte (hoffentlich hielt sie durch, bis die Baum-Gesellschaft unter dem Hotelvordach vorfuhr), als Mrs Davidow in die Küche gepoltert kam. Ihr Gesicht war zur Abwechslung einmal nicht vom Trinken hochrot angelaufen. Sie schubste meine Mutter außer Hörweite in eine Ecke, und ihr Mund begann sich wild zu bewegen. Vergnügt suchte ich nach einer kleinen Olive, um sie unter Miss Berthas Salatblättern zu
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