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Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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verstecken.
    Da steuerte Lola Davidow zu meiner großen Überraschung wie ein Tanker, der sich einem Vergnügungsschiff nähert, auf mich zu. Sollte ich jetzt an allem schuld sein?
    »Emma, ich möchte, dass du rausgehst auf die vordere Veranda und versuchst, Jane vom Singen abzubringen.«
    Ich ließ das Salatblatt fallen. Man verlangte meine Hilfe? Ich sollte dafür sorgen, dass es sich für Ree-Jane ausgewirbelt hatte? Ach, was für eine großartige Aufgabe!
    Während ich nach vorn marschierte, überlegte ich: Wenn Ree-Jane die Nummer abzog, um Aufmerksamkeit zu erregen, wäre es ihr doch gerade recht, wenn andere versuchten, sie zum Schweigen zu bringen. Andererseits – falls sie tatsächlich dabei war überzuschnappen, konnte keiner sie aufhalten. So oder so sah die Sache ziemlich hoffnungslos aus.
    Genau in diesem Moment kam Miss Bertha die Treppe herunter und hielt sich am Geländer fest, als wären die Stufen spiegelglatt. »Was ist denn das für ein Gekreische?«
    »Jane Davidow.« Ich lächelte.
    Sie brummte bloß, während sie sich über das glatte Gefälle der Treppe hinuntermanövrierte, und wollte wissen, wo denn Ree-Janes Mutter sei. Ich sagte es ihr, worauf sie wie eine kleine Dampfmaschine und für ihre Verhältnisse ziemlich rasant loslegte.
    Da tauchte Ralph Diggs auf – wie so oft scheinbar aus heiterem Himmel, obwohl das natürlich nicht zutraf. Vermutlich war er über den Korridor im linken Flügel hergekommen, verdeckt von Miss Bertha, die auf der Treppe stand.
    »Was ist denn los?«
    »Nichts.« Ich ließ mich in einen Sessel fallen und griff nach einer Zeitschrift. »Nichts« war schwer zu glauben, beim Anblick der singend an der vorderen Fliegengittertür vorbeitanzenden Ree-Jane.
    Er trat an die Tür, schaute und hörte zu. Er trug sein leinenes »Pagen«-Jäckchen, schon bereit, den Dinnergästen den Wagenschlag aufzureißen, zupfte sich eine Zigarette hinterm Ohr hervor und zündete sie mit seinem Zippo-Feuerzeug an, das er sodann wieder in seiner Jackentasche verschwinden ließ. Er machte keine Anstalten, auf die Veranda hinauszugehen.
    Nach einigen Minuten kam Lola Davidow vom Speisesaal her durch die Eingangshalle, mit hochrotem Gesicht und entschlossener Miene.
    Kaum hatte sie Ralph gesehen, zitierte sie ihn mit einem Kopfnicken zu sich herüber. Das ärgerte mich. Ich war sauer auf mich, weil ich mich von ihm hatte ablenken lassen und nun keine Chance mehr hatte, Ree-Jane daran zu hindern, sich so bescheuert aufzuführen.
    Ich konnte mir nicht denken, wieso Ralph ins Vertrauen gezogen oder in einen Plan zur Beruhigung von Ree-Jane eingebunden wurde, die nun lauter sang denn je.
    Sie wussten natürlich nicht, was ich über ihn wusste – oder glaubte zu wissen. Aber durchschaute Mrs Davidow die Schmeichelei und das Lächeln eigentlich nicht so weit, um zu merken, dass er ihr was vormachte? Sie war nicht gerade das, was man eine »große Kennerin der menschlichen Natur« nennen würde, aber in der Hinsicht mit Dummheit geschlagen war sie auch nicht. Ich hatte genug Gespräche zwischen ihr und meiner Mutter mitbekommen, um zu wissen, dass sie manche Leute wie eine Wassermelone aufschneiden und die Kerne zählen konnte. Gleichzeitig dachte ich mir, vielleicht sehnte sich Mrs Davidow ja auch manchmal nach einer Schmeichelei und würde gern ein Kompliment hören, egal, von wem es kam.
    Will schaffte es, sie in die Tasche zu stecken, allerdings war Will sogar in seinem Alter höflicher als Ralph Diggs. Er machte nicht so spitze, süffisante Bemerkungen. Wills glatte, gefällige Art kam teils daher, dass er in einem Hotel aufgewachsen war; teils war ihm dieser Charakterzug auch einfach in die Wiege gelegt worden. Ich stellte ihn mir vor, wie er als Baby von einer Kinderschwester hochgenommen und sanft abgeschmirgelt wurde, bis er nirgends mehr scharfe Kanten hatte.
    Rafe Diggs dagegen bestand aus lauter scharfen Kanten.
    Mrs Davidow händigte ihm die Schlüssel aus, und ich hörte sie sagen, er solle den Wagen vorfahren. Ich überlegte, welchen Wagen und wieso er den fahren sollte. Dann sagte sie etwas von einem Krankenhaus und von Cloverly. Cloverly lag fünfundzwanzig Meilen entfernt von hier und war doppelt so groß wie La Porte. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es dort ein Krankenhaus gab.
    Dann kam Ree-Jane herein. Nein: Ich sollte sagen, sie machte ihren großen Auftritt , das gerötete Gesicht glänzte, und die Augen funkelten von all der neu gefundenen, überschüssigen Energie.

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