Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
genommen. Hat sie übernommen.«
Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Sie hat nicht zurückgeschaut. Jane, meine ich.«
Dies sagte er, als hätte er darüber nachgedacht, als wäre es wichtig. In all der Zeit, die ich sie schon kannte, war mir nie in den Sinn gekommen, dass Ree-Jane etwas Wichtiges tun könnte.
Er sagte: »Sie kann einem schon leidtun.«
Mir aber nicht! Ich fand das nervig, wirklich nervig, dass er mir vorschreiben wollte, was ich fühlen sollte. Ich war ganz gut klargekommen, bevor er bei uns hereingeschneit war. »Glaubst du, sie ist wirklich, ähm, geisteskrank? Ich glaub ja, es ist bloß Getue, das ganze Getänzel und Gesinge, damit man sie interessant findet.«
Sein Schweigen dauerte unangenehm lange. Es war so, dass seine Schweigepausen das Gewicht von ungesagten Worten trugen. Es war eigentlich nicht direkt Schweigen, es war eher eine unterschwellige Sprache, als käme er mit einer separaten Sprache von irgendwoher, einer Sprache, die ich nie sprechen könnte. Schließlich sagte er: »Sie muss einem aber trotzdem leidtun. Ich meine, wenn man dazu getrieben wird, so weit zu gehen.«
Es war so unendlich traurig, und ich hätte noch einen Schritt zurückgemacht, wenn da nicht die Wand gewesen wäre. Ich versuchte, es durch ein bisschen Sarkasmus aufzulockern: »Na, das hast du dir bestimmt nicht gedacht, als du hergekommen bist, dass du jemand in die Nervenklinik chauffieren musst.« So könnte ich, dachte ich mir, das Thema ja auch auf die Frage lenken, weshalb er hier war.
Er sagte nichts, sondern schaute mich an, als wäre ich in seiner Welt etwas völlig Fremdes.
Ich fügte hinzu: »Du hast gesagt, du wärst bloß auf der Durchreise. Wieso hast du hier Station gemacht und dir einen Job gesucht?«
»Ich brauchte irgendeine Bleibe und bin ziemlich abgebrannt. Da dachte ich mir, in einem Hotel können sie einen doch bestimmt brauchen.«
Es klang einleuchtend. Fast.
»Du kriegst doch gar nichts dafür.«
»Nein, aber ich habe ein Zimmer und bekomme hier was zu essen. Und was für ein Essen!«
Das erste Thema, über das wir unbeschwert reden konnten. »Ja, das Essen ist schon toll.«
An der Zigarette, die inzwischen fast ganz heruntergeraucht war, hing ein langes Stück Asche. Ich fragte mich, warum es nicht herunterfiel. Es schien fast zu schweben. Noch so ein Zaubertrick.
Weil es mir nicht so recht glückte, Informationen aus ihm herauszukriegen, sagte ich Gute Nacht und stieß mich mit einem Schulterzucken von der Wand und von ihm ab.
Nachts im Bett driftete ich in Gedanken zurück und durchforstete die letzten paar Wochen nach Hinweisen auf Ree-Janes ernste Geisteskrankheit. Was ich sah, kam mir aber so vor, als wäre es immer schon da gewesen, seit ich sie kannte: die Gespräche mit sich selbst oder, noch beunruhigender, mit jemand anders, den aber keiner sehen konnte. Das schreckliche tonlose Gelächter, das mir das Gefühl vermitteln sollte, ich sei ein Volltrottel. Und ihr allgemeines Gebaren, mit dem sie sich aufführte wie eine Sechsjährige. Ich war mir sicher gewesen, dass sie bloß eine Schau abzog, in der Nacht war ich mir dann aber weniger sicher. Und nachdem ich Ralph Diggs zugehört hatte, überlegte ich: Wäre es denn nicht an sich schon verrückt, überhaupt so eine Schau abzuziehen? Dann dachte ich an das Bild von dem Zimmermädchen in schwarzer Tracht, das vor einer Tür kniete, und fragte mich, ob ich vielleicht Ralph Diggs durch ein Schlüsselloch ansah. Ich drehte mich auf die Seite und betrachtete den Schatten an der Wand, den die düstere Flurlampe warf, deren Schein durch das Oberlicht drang – und ich überlegte, ob ich vielleicht ein Schlüssellochleben führte.
49. KAPITEL
»Es hat was mit den Nerven zu tun«, sagte meine Mutter am nächsten Morgen, während sie meine perfekt doppelt gewendeten Spiegeleier mit einem Pfannenheber aus der gusseisernen Bratpfanne hob.
» Nerven haben wir doch alle, oder?«
»Lass deine Witze.« Schwungvoller als nötig stellte sie die Pfanne wieder auf den Herd und nahm die flache zur Hand, von der sie drei Pekannuss-Pfannkuchen auf meinen Teller gleiten ließ. »Eins kann ich dir sagen – meinen freien Vormittag kann ich mir jetzt an den Hut stecken.«
Damit spielte sie wohl darauf an, dass Lola Davidow vor und nach ihrem herzhaften Frühstück ununterbrochen telefoniert hatte, hauptsächlich mit dem Tri-State Krankenhaus außerhalb von Cloverly. Auf ihren Appetit hatte sich Ree-Janes Zustand offenbar
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