Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Sie flog förmlich quer durch die Eingangshalle und die Treppe hinauf.
Ich beobachtete Ralph, der sie mit seinem typischen, leicht schiefen Lächeln musterte, nicht direkt hämisch, aber so ähnlich. War das mit dem Autoschlüssel da in seiner Hand eine gute Idee?
Als Mrs Davidow sich wieder von einem ihrer Telefonanrufe losgeeist hatte und auf das hintere Büro zusteuerte, folgte ich ihr. Vermutlich zählte meine Meinung ja nicht viel, doch ich sagte: »Dass Ralph Diggs jetzt Ree« – ich fing mich gerade noch – » Jane irgendwo hinfährt … Dem ist nicht zu trauen.«
Sie blieb stehen und musterte mich. »Mit mir will sie nicht, und wegen der Dinnerparty kann deine Mutter sie nicht fahren. Wer soll es sonst machen?« Sie hatte sich einen ordentlichen Schluck Jim Beam eingeschenkt, den sie sich nun pur hinter die Binde kippte.
Also, irgendwie musste ich sie ja bewundern. Dafür, dass sie nicht durchdrehte, dass sie nicht herumbrüllte und eine Szene machte. Und welche Szene könnte Ree-Janes Getue schon den Rang ablaufen? Denn es war sicher bloß Getue.
Es solle wenigstens noch jemand mitfahren, meinte ich und dachte an Will. Doch sie lehnte ab: Nein, Jane glaubte, es wären alle gegen sie.
Ich kam gerade rechtzeitig aus dem hinteren Büro, um zu sehen, wie Ree-Jane mit einem Köfferchen in einer Art Walzerschritt die Treppe hinuntertänzelte. Den Rhabarberton hatte sie noch aufgemotzt, indem sie sich einen blauen Seidenschal um den Hals gebunden hatte.
Ralph sagte, er sei rechtzeitig für die Baum-Gesellschaft wieder zurück. Mit Leichtigkeit. Es sei erst kurz nach fünf und Cloverly bloß fünfundzwanzig Meilen entfernt.
Ree-Jane mit ihrem Köfferchen und ihrer munteren Miene und ihrer Unbekümmertheit … man hätte die beiden für ein glückliches Paar halten können, auf dem Weg in die Flitterwochen, nicht in die Klapsmühle.
Wir drei standen auf der Veranda und schauten zu, wie das weiße Cabrio die Kiesauffahrt hinunterzuckelte, Ree-Janes meerblauer Schal im Wind hinterherwehend, sie mit erhobenem Arm winkend wie eine dieser glücklichen, reichen Frauen am Strand von Deauville auf einem von Auroras Reiseplakaten. Wie sie den Überbleibseln der normalen Welt zum Abschied zuwinkte.
Ralph Diggs war tatsächlich, wie angekündigt, nach zwei Stunden wieder da, um sich dekorativ an die vordere Treppe zu stellen, als die Baums eintrafen. Ich konnte nicht hören, was er Mrs Davidow und meiner Mutter später in der Küche erzählte, obwohl ich mein Tablett möglichst dicht zu ihrem Grüppchen hinschob, als sie am Salattisch versammelt standen, und mich möglichst lange beim Steintopf mit dem Salatdressing herumdrückte. Seltsamerweise kam mir in dem Moment wieder die junge Frau in der schwarzen Serviertracht in den Sinn, die auf der Titelseite der Zeitschrift vor dem Schlüsselloch kniete, obwohl ja Vera die in der schwarzen Bluse mit den weißen Manschetten war.
Nach dem Abendessen strich ich noch auf dem Flur herum, an dem sich Ralphs Zimmer befand. Als ich jemanden die Treppe hochkommen hörte, die vom Speisesaal in den ersten Stock führte, ging ich rasch in die Toilette dort, und als ich die Schritte im Flur hörte, kam ich heraus und knipste dabei lässig das Licht aus.
»Ach, hallo.«
Ralph Diggs nickte, sagte aber nichts. Trotzdem blieb er stehen. Als hätte er nichts gegen einen kleinen Schwatz.
Ich ging darauf ein. »Na, das war bestimmt ziemlich heftig, den ganzen Weg nach Cloverly fahren und pünktlich zum Abendessen zurück sein, oder?«
Er lehnte sich in seiner typisch lässigen Art gegen die Wand und holte eine Zigarette hinterm Ohr hervor. So hatte er auch die Münze hinter meinem hervorgezogen, mit dieser Zaubergeste. Er hatte fast immer eine Zigarette hinterm Ohr stecken. Es erinnerte mich an Dwayne mit seinem öligen Lappen. Ich war noch nie auf den Gedanken gekommen, dass der Lappen vielleicht etwas Heimeliges war, etwas, worauf man sich verlassen konnte, etwas, das man immer bei sich trug. Vielleicht war die Zigarette für Ralph auch so etwas Heimeliges. Ich überlegte, ob es mit meiner umschweifigen Art auch so war.
Schließlich antwortete er: »Ich bin ziemlich schnell.«
»Trotzdem, du musstest Ree-Jane, ich meine Jane, ja noch ins Krankenhaus reinbringen. Du hast sie doch nicht einfach abgeliefert und gesagt: ›Also, dann bis später.‹«
»Nein. Ich bin mit reingegangen zur Anmeldung.«
»Und dann?«, fragte ich geradeheraus.
»Eine Frau kam und hat sie in Obhut
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