Das Versprechen
laufen wir eben nicht«, entgegnete Lou.
Er schaute sie an. »Tremont ist näher.«
»Nein, Dickens. Ich will nach Dickens.«
»Wir könnten ein Taxi nehmen«, sagte Oz.
»Wenn wir in McKenzie’s an der Brücke sind«, überlegte Lou, »können wir vielleicht per Anhalter nach Dickens fahren. Wie weit ist eigentlich die Brücke zu Fuß?«
Diamond dachte nach. »Über die Straße an die vier Stunden. Wenn wir da ankommen, müssen wir auch schon wieder zurück. War ziemlich anstrengend, nur um mal ’nen Tag von der Schufterei auf der Farm wegzukommen.«
»Gibt es noch einen anderen Weg als die Straße?«
»Willste wirklich da runter?«
Lou atmete tief durch. »Ich will wirklich da runter, Diamond.«
»Na gut, dann gehn wir. Ich kenn ’ne Abkürzung. Mann, da sind wir schneller da, als wir niesen können.«
Seit die Berge entstanden waren, hatte das Wasser über Jahrmillionen hinweg den weichen Kalkstein ausgeschwemmt und Hunderte Meter tiefe Höhlen und Rinnen zwischen den härteren Felsen ausgewaschen. Die Linie schmaler Bergzinnen erhob sich neben den dreien, als sie endlich losmarschierten. Eine weite Klamm, an die sie schließlich gelangten, schien unpassierbar, bis Diamond sie an einen Baum führte. Hier wuchsen Tulpenbäume von gewaltigem Umfang, der schon in Metern und nicht mehr in Zentimetern gemessen werden musste. Viele waren dicker als der Körper eines Mannes und erhoben sich an die fünfzig Meter in den Himmel. Aus einem einzigen Stamm konnten viereinhalbtausend Meter Bretter gesägt werden. Ein beeindruckendes Exemplar dieser Bäume lag quer über der Schlucht und bildete eine Brücke.
»Wenn wir hier drübergehn, kürzen wir den Weg nach unten ab«, sagte Diamond.
Oz schaute über die Schlucht, sah nur Felsen und Wasser am Ende einer tiefen Klippe und wich zurück wie eine erschrockene Kuh. Sogar Lou blickte unsicher drein. Aber Diamond ging bereits zu dem Stamm.
»Is’ kein Problem. Dick und breit. Schitte, macht einfach die Augen zu und geht rüber. Kommt schon.«
Er balancierte hinüber, ohne auch nur einmal in die Tiefe zu schauen. Jeb flitzte leichtfüßig hinter ihm her. Diamond erreichte wieder festen Boden und blickte zurück. »Nun kommt schon«, wiederholte er.
Lou setzte einen Fuß auf die Pappel, machte aber keinen Schritt.
»Guck einfach nicht runter!«, rief Diamond von der anderen Seite des Abgrunds. »Is’ doch ganz leicht!«
Lou drehte sich zu ihrem Bruder um. »Du bleibst hier, Oz. Lass mich erst nachschauen, ob es wirklich sicher ist.« Sie ballte die Hände zu Fäusten, betrat den Stamm und ging hinüber. Den Blick starr auf Diamond gerichtet, erreichte sie ihn kurz darauf auf der anderen Seite. Sie schaute zu Oz zurück. Er machte keine Anstalten, den Baumstamm zu betreten, starrte stur zu Boden.
»Geh du allein weiter, Diamond. Ich gehe mit ihm zurück.«
»Nee, so machen wir ’s nicht. Du has’ gesagt, du willst in die Stadt. Also gehn wir in die Stadt, verdammich.«
»Ich gehe nicht ohne Oz.«
»Musst du auch nich’.«
Diamond befahl Jeb, auf ihn zu warten, und lief über die Baumbrücke zurück. Er nahm Oz huckepack, und Lou beobachtete voller Bewunderung, wie Diamond den Jungen über den Stamm trug.
»Du bist ganz schön stark, Diamond«, sagte Oz, als er erleichtert aufatmete und behutsam zurück auf den Boden glitt.
»Ach, das war doch gar nix. Mich hat mal ’n Bär über diesen Baum gejagt, und ich hatte Jeb und ’n Sack Mehl aufm Rücken. Außerdem war’s Nacht. Und es regnete so fest, dass Gott über irgendwas geheult haben muss. Konnte überhaupt nix erkennen. Na ja, wär auch fast zweimal abgerutscht.«
»Du meine Güte«, sagte Oz.
Lou verbiss sich ein Lächeln. »Und was ist mit dem Bären passiert?«, fragte sie mit scheinbar aufrichtigem gespanntem Interesse.
»Hat mich verpasst und is’ im Wasser gelandet. Das verdammichte Biest hat mich nie wieder geärgert.«
»Gehen wir in die Stadt, Diamond«, sagte sie und zog ihn am Ärmel, »bevor dieser Bär zurücckommt.«
Sie überquerten noch ein anderes Gebilde, eine Hängebrücke aus Tauwerk und Zedernholzbrettern mit Löchern an den Rändern, durch die das Hanfseil gezogen und verknotet war. Diamond erzählte ihnen, dass Piraten, Siedler und später auch Flüchtlinge der Konföderierten diese alte Brücke gebaut und sie zu verschiedenen Zeiten erweitert hätten. Diamond behauptete zu wissen, wo diese Leute begraben lagen. Er habe jedoch einer Person, die er nicht nennen wollte,
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