Das Versprechen des Architekten
arbeiten. Mir fällt ein, dass nicht ich, sondern Kamil von jemandem beschützt werden sollte. Er ist es, der Schutz benötigt. Er ist nicht fähig, diese Welt anzunehmen, er hat keinen starken familiären Rückhalt, seine Frau kommt mir vor wie das überflüssigste Geschöpf, das es gibt, leer und ausdruckslos, und mit dem Augenblick, alser das verlor, woran ihm wirklich gelegen war, die Möglichkeit, seine Traumhäuser zu bauen, ist ihm nichts geblieben, in das hinein er sich flüchten könnte. Ich arbeite in zwei Schichten in einer großen Tischlerwerkstatt und habe dann den Nachmittag oder, wie heute, den Vormittag für mein Atelier. Wohingegen Kamil im Baubüro festsitzt bei einer Arbeit, die er verachtet, und darüber hinaus macht er nichts mehr, er hat schon seit Langem resigniert. Wahrscheinlich habe ich Angst um ihn. Als würde ich ahnen, dass einmal etwas Furchtbares mit ihm passieren wird, das zu verhindern nicht in meiner Macht stehen wird.
GENOSSE, BIST DU VIELLEICHT EIN SCHWEIN!
Ich trete durch das Haupttor und sehe mich um. Rechts an der Friedhofsmauer duckt sich ein Häuschen mit niedrigem Dach, aber fast so lang wie eine überdachte Kegelbahn. Aha, Radeks Steinmetzwerkstatt. Die Tür sperrangelweit offen, und Radek Stolař hockt dort auf einem Steinsockel und liest die Zeitung. Erst als ich näher komme, sehe ich, dass er gar nicht wirklich liest, er hält das Blatt einfach in Händen und schaut irgendwo ins Leere. Aber weil nicht ich diese Leere sein will, weiche ich seinem gläsernen Blick sorgsam aus, und erst, als ich ganz bei ihm bin, reißt er sich aus seiner Versunkenheit und nimmt mich zur Kenntnis.
Hast du die heutige Zeitung gelesen?, fragt er entsetzt.
Hab’ ich nicht. Aber ich weiß, was du meinst. Ich hab’s am Abend im Radio gehört.
Was geht da vor? Ich versteh’ das nicht.
Ich denke, dass sie das eindeutig erklären, oder? Gestern hieß es im Radio, dass die Staatssicherheit die Fäden einer staatsfeindlichen Verschwörung in die Hand bekommen hat, die diesmal bis nach Brünn reichen. Der Feind des Aufbaus des Sozialismus, der bis zu den oberstenOrganen vorgedrungen ist, hat jetzt seine Klauen bis in unser Städtel ausgestreckt. Weißt du was? Hau den Hut drauf, Kumpel. Ist ja sowieso alles im Arsch. Ich denke, es ist nicht unsere Pflicht, das zu verstehen.
Weil die Decke in Radeks Werkstatt nicht sehr hoch ist und ich mit gebeugtem Kopf dastehen muss, deutet er auf den Sockel eines Marmorkreuzes mit einer Dornenkrone aus rostigem Draht. Ich setze mich und gebe acht, dass sich meine Haare nicht in der Dornenkrone verfangen.
Ich, gibt Radek kühn zu, ich hab’ diesen Sekretär ein wenig gekannt. David Schildberger entstammte einer großen jüdischen Familie. Sie haben hier eine Familiengruft. Aber die Eltern des Sekretärs und sämtliche Verwandte sind in Konzentrationslagern umgekommen. Aber er bat mich, ihre Namen in die Platte auf dieser Gruft einzugravieren, obwohl sie nie dort liegen werden, ihre Asche ist irgendwo in Polen oder in Deutschland geblieben. Das ist ein ungeheuer galanter Mensch. Er kam dann bei uns in der Hybešova vorbei und brachte Lucie einen riesigen Blumenstrauß mit und sagte ihr was Bewunderungsvolles und Schönes, es war irgendein Zitat aus Dantes „Göttlicher Komödie“, ich kann mich nicht daran erinnern, aber Lucie wird es wissen. Wie die Juden doch ganze Bibliotheken im Kopf tragen. Jetzt also haben sie ihn verhaftet und wahrscheinlich noch in der Nacht nach Prag gebracht. Ich hab’ gerade darüber nachgedacht und begriffen, dass der wohl nicht mehr zurückkehren wird.
Ich nickte. Er war einer von ihnen gewesen, und mit Renegaten gehen sie am schlimmsten um. Und unterUmständen kehrt nicht einmal seine Asche zurück. Wenn ich jetzt die Augen zukneife (und ich kniff die Augen zu, und einen Moment später kam tatsächlich ein Bild in mir hoch), sehe ich einen verregneten Abend, eine Kreisstraße, und auf ihr fährt ein Auto, und jemand hat jetzt die Hand aus dem Fenster gestreckt und schüttet aus einer Blechdose Asche hinaus …
Ich öffnete die Augen und glotzte ein Weilchen leer vor mich hin. Radek blickte mich entsetzt an: Hast du Visionen?
Hab’ ich dir noch nicht davon erzählt? Es ist natürlich nicht so, dass mein Talent als Privatschnüffler damit steht und fällt, aber von Zeit zu Zeit kommt es mir gelegen. Es ist so eine Art optische Intuition, die immer mit den Fällen, die ich gerade löse, zusammenhängt.
Aber Schildberger
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