Das Versprechen Des Himmels
Wand entlang vorwärts.
Der Tunnel führte nur in eine Richtung. Er hatte Gerüchte von solch unterirdischen Gängen gehört, aber angeblich sollte es sie nur unter dem Labyrinth geben.
Die Dunkelheit veranlaßte ihn anzuhalten. Es war schlimmer, als blind zu sein, denn er wußte, daß er sehen konnte. Seine Augen waren offen und schweiften von Seite zu Seite. Sie strengten sich an, irgend etwas zu sehen, nach dem sie sich richten könnten. Sein Herz hämmerte gegen die Rippen.
Trotzdem ging er weiter, denn er konnte das Versprechen nicht vergessen, das er Asphodel gegeben hatte.
Ein Gespinst legte sich um seinen Kopf. Er öffnete den Mund zum Schrei, vermochte ihn jedoch in letzter Sekunde noch zu unterdrücken. Dann wischte er mit dem Ärmel übers Gesicht, um sich von dem klebrigen Gewebe zu befreien.
Wie, zum Teufel, war der Hexer an ihm vorbeigekommen, ohne es zu zerreißen?
Dayrne schlich weiter. Nur allzusehr war er sich der Enge des Ganges und des Gewichts der Erde über sich bewußt.
Da! War das ein Licht?
Er ging etwas schneller, achtete jedoch darauf, keinen Laut zu verursachen. Der Lichtpunkt wurde zu einer Flamme in der Ferne, dann zu einer Wandlampe und einer zweiten dahinter. Dayrne hielt am Rand der Dunkelheit inne und lauschte.
Die unbewegte Luft trug eine leise Stimme. Die Worte zu verstehen war unmöglich, aber nach dem Rhythmus und der Betonung zu schließen, hielt Dayrne es für ein Gebet oder eine Beschwörung. Sehen konnte er jedoch nichts, so schlich er an die Wand gedrückt in den Lichtkreis.
Wieder hielt er an. Ein nur zu bekannter Geruch kam durch den Tunnel. Dayrne rümpfte die Nase. Seine Brauen zogen sich zusammen. Er umklammerte den Schwertgriff.
Es roch nach Tod, nach verwesendem Fleisch. Zu viele Jahre in rankanischen Arenen, erst als Sklave, dann als freier Gladiator, hatten ihn nur allzu vertraut mit diesem Geruch gemacht. Er biß die Zähne zusammen, bemühte sich, nicht zu oft und nicht zu tief zu atmen, und folgte dem Geruch und der Stimme.
Ein Schrei schrillte durch den Tunnel. Die Härchen stellten sich auf Dayrnes Nacken auf. Der Schrei einer Frau. Ein zweiter folgte ihm, dann eine Pause und danach eine lange Reihe von Schreien, unterbrochen von Schluchzen.
Dayrne gab es auf, unbemerkt bleiben zu wollen. Der Singsang hatte sich in Lautstärke und Intensität den Schreien angepaßt. Die Kakophonie schmerzte in den Ohren. Mit weit aufgerissenen Augen rannte er. Die Furcht hemmte seinen Schritt nicht, sie beschleunigte ihn sogar, bis er den Eingang zu einer Kammer in der Tunnelwand erreichte.
Der ursprüngliche Zweck dieses unterirdischen Ganges wurde ihm nun bewußt. Er befand sich inzwischen sicherlich nahe dem Palast, und das war ein alter Fluchtweg für Notfälle, von den Ilsigern erbaut und den gegenwärtigen rankanischen Bewohnern vielleicht gar nicht bekannt. Die Kammer war voll leerer Waffengestelle, aus denen sich Fliehende rasch Schwerter genommen haben mochten, ehe sie im Versprechen an der Oberfläche auftauchten.
Doch seine gesamte Erfahrung in der Arena hatte ihn nicht auf den übrigen Anblick vorbereitet.
Im Licht eines Dutzends Öllampen sah Dayrne die Leichen von Asphodels verschwundenen Mädchen. Sie hingen an ihren Hälsen von tief in die Wände getriebenen Metallhaken. Hanfseile schnitten durch das geschwollene Fleisch ihrer Kehlen. Offensichtlich aber waren sie vor dem Aufhängen bereits tot gewesen.
Die ersten paar Frauen waren lediglich durchs Herz gestochen worden. Die verkrusteten bläulichen Wunden waren auf ihren nackten Brüsten deutlich zu sehen. Die nächste war regelrecht ausgeweidet, wie der weit geöffnete Bauch erkennen ließ. Die Verstümmelungen wurden zusehends grausamer. Von einer waren Haut und Muskeln abgezogen, so daß die Organe frei lagen. Eine andere war verhältnismäßig ganz, doch verrieten dunkle Löcher, daß die Organe entfernt worden waren. Wieder einer anderen waren die sichtbaren Adern der Länge nach aufgeschlitzt.
Wo die Leichen hingen, hatte Blut die Wand grauenvoll gefärbt. Alte Lachen und Rinnsale von Blut auf dem Boden unter ihnen waren getrocknet und verkrustet.
Dayrne wurde übel.
Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch rasch auf die schreiende Frau gelenkt. Es war die Dirne, der er von Shipris Nische gefolgt war. Sie war auf einen kreuzförmigen Altar in der Mitte der Kammer gebunden. Der Zauber, mit dem der Hexer sie ursprünglich betört hatte, war vergangen. Sie empfand nur noch grauenvolle Angst.
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