Das Versteck der Anakonda
kurzen schlanken Speer verstaut. Es sah so
aus, als hätte er einen längeren Ausflug eingeplant.
»Wo fahren wir überhaupt hin?«
»Zuerst ein Stück den Fluss hinauf in Richtung Porto Misahuallì. Und dann in einen kleineren Nebenfluss. Ich kenne eine Stelle,
wo Guaven und wilde Ananas wachsen. Was meinst du?«
»Ja, cool. Ist mir aber eigentlich auch ganz egal, wohin es geht. Mit dir macht es überall Spaß!«
Juanito sah ein wenig verlegen zur Seite und konzentrierte sich dann ganz darauf, vom Uferstreifen weg ins Tiefe zu kommen.
Juanito rechts, Paul links, stachen die beiden Jungen ihre kurzen Paddel in das trübe Wasser und hatten schon nach wenigen
Minuten einen guten Rhythmus gefunden. Das Kanu lag ruhig im Wasser und kam erstaunlich schnell voran.
Nach einer knappen halben Stunde waren ihre Paddelbewegungen so gut aufeinander abgestimmt, dass Paul sich auch auf die Umgebung
konzentrieren konnte. Ohne den lauten Außenbordmotor waren Fluss und Dschungel jetzt geradezu unheimlich still. Die wenigen
Laute aus den Tiefen des Waldes waren dafür umso eindringlicher. Zum Glück saßJuanito mit ihm im Boot, denn der Indianerjunge kannte scheinbar jedes Geräusch. Wie es schien, beteiligten sich vor allem
Frösche und Kröten an dem absonderlichen, von vielen Pausen unterbrochenen Konzert: dumpfes Grummeln, heiseres Krächzen, ochsenartiges
Gebrüll, metallisches Klopfen – es gab offensichtlich kaum einen Laut, den die glitschige Familie nicht beherrschte. Manchmal
hielt Paul erschrocken den Atem an. Vor allem der lang gezogene, heisere Schrei der Brüllaffen ging ihm jedes Mal durch Mark
und Bein.
Nur einmal erstarrte auch Juanito, als ein tiefer, grollender Laut in kurzer Folge dreimal hintereinander erklang. Paul sah
seinen neuen Freund fragend und etwas ängstlich an, denn besonders weit entfernt schien das nicht gerade gewesen zu sein.
»Jaguar!« Juanito wirkte schon wieder ruhig und unbekümmert, steuerte das Kanu aber dennoch mit wenigen festen Paddelschlägen
zur Flussmitte.
Die beiden Jungen kamen gut voran. Auch wenn sie gelegentlich ein paar Vögel beobachten konnten, einmal von Weitem sogar den
Kopf eines großen Kaimans, waren doch insgesamt viel weniger Tiere zu sehen, als Paul das eigentlich erwartet hatte. Dafür
war das Brummen und hohe Sirren der Fliegenund Mücken allgegenwärtig. Obwohl Paul sich am Morgen reichlich Insektenschutzmittel auf die Haut geschmiert hatte, schlug
er immer wieder um sich. Juanito dagegen blieb bewundernswert gelassen, selbst wenn sich eine der großen Zancudos auf seinen
nackten Oberkörper setzte und zubiss.
Sie waren wohl schon an die zwei Stunden unterwegs, als auf einmal ein lauter Knall die Stille zerriss.
›Ein Schuss!‹, dachte Paul und duckte sich unwillkürlich zur Seite.
»Da!« Juanito, der keine Miene verzogen hatte, zeigte rechts neben sich auf einen von Wasserhyazinthen bedeckten Flussabschnitt.
Als Paul sich wieder aufgerichtet hatte, sah er, wie dort an einer Stelle die Blätter der Schwimmpflanze in Bewegung geraten
waren. »Der Piraracu springt! Lass uns die Plätze tauschen und bring mich näher heran!«
Sie turnten auf dem gefährlich schwankenden Kanu aneinander vorbei. Paul nahm an, dass sein Freund die Angelschnur benutzen
würde. Stattdessen zog Juanito aber seinen Speer hervor. Was immer ein Piraracu war, es musste sich um einen ziemlich großen
Fisch handeln.
»Dort, wo das Wasser wirbelt. Vorsichtig jetzt, noch ein kleines Stück!«
Atemlos tauchte Paul noch einmal das Paddel ins Wasser und hielt dann inne. Juanitos Wurfarm hob den Speer auf, spannte sich
und schleuderte ihn dann mit viel Kraft in das trübe, pflanzenbedeckte Wasser. Der Fluss explodierte! Sofort ließ Juanito
das Seil der Lanze ein wenig abrollen. Sie sahen, wie der Holzschaft der Waffe beinahe ganz im Wasser verschwand.
»Hilf mir!«
Mit vereinten Kräften holten sie das Seil Zug um Zug zur Hälfte wieder ein. An dem Widerstand merkte Paul erst, wie stark
der Fisch dort unten sein musste. Nach beinahe zehn Minuten hatten die Jungen es fast geschafft. Einen halben Meter vor ihnen
schimmerte es unter den Hyazinthenblättern weiß glänzend auf. Dann sahen sie den Fisch in vollerGröße. Der lang gezogene Körper mit dem spitzen hechtartigen Maul war bestimmt achtzig Zentimeter lang. Und Paul wusste sofort,
was es war. Der Piraracu hieß in Brasilien Arapaima. Und unter diesem Namen hatte er ihn oft genug
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