Das Versteck
sichtlich spinneneigenes Vergnügen an dieser besonderen Ecke.
Lindsey wandte sich wieder ihrer Staffelei zu. Das Bild war eine ihrer gelungensten Arbeiten und fast fertig, es waren nur noch einige wenige letzte Pinselstriche nötig.
Sie mochte sich nicht entschließen, die Maltuben aufzuschrauben und einen Pinsel zur Hand zu nehmen, denn eines konnte sie so perfekt wie malen: sich Sorgen machen. Diesmal war es Hatchs Gesundheitszustand – psychisch wie physisch – der ihr Sorgen bereitete, und der Gedanke an den Unbekannten, der die blonde Frau getötet hatte. Die unheimliche Verbindung zwischen dieser grausamen Bestie und ihrem Hatch beunruhigte sie zutiefst.
Die Spinne hangelte sich jetzt am rechten Fensterrahmen nach unten auf das Fensterbrett. Ein spinnentypischer sechster Sinn ließ sie aber auch diesen Winkel ablehnen, denn sie kehrte wieder an ihren Lieblingsplatz in der oberen rechten Fensterecke zurück.
Wie die meisten Menschen ließ Lindsey übersinnliche Kräfte nur in einem gut gemachten Gruselfilm gelten, in Wirklichkeit betrachtete sie sie jedoch als reine Scharlatanerie. Trotzdem war sie relativ schnell zu dem Schluß gelangt, daß Übersinnlichkeit eine Erklärung für das sein könnte, was Hatch widerfahren war. Sie bestand auch weiterhin auf ihrer Theorie, selbst als Hatch ihr versichert hatte, daß er keine solchen Gaben besaß.
Während sie frustriert auf das unfertige Bild vor sich starrte, ging ihr auf, warum sie so beharrlich an der Vorstellung festhielt, daß in jener Freitagnacht, als sie der Spur des Mörders folgten, tatsächlich eine übersinnliche Kraft in ihrem Wagen präsent gewesen sein könnte. Sollte Hatch nämlich doch parapsychologische Fähigkeiten erworben haben, würde er mit der Zeit Reize von allen möglichen Menschen empfangen, und seine Verbindung zu dem Mörder wäre so ungewöhnlich nicht. War er jedoch nicht übersinnlich veranlagt, und die Bindung zwischen ihm und dem Monster viel enger als bei einer, wie Hatch behauptete, zufälligen Telepathie, standen sie bereits bis zu den Knien im Ungewissen. Und das Ungewisse war tausendmal beängstigender als etwas, das man beschreiben und definieren konnte.
Wenn also die Verbindung zwischen den beiden weitaus mysteriöser war und tiefer ging als bei einer übersinnlichen Wahrnehmung, konnte das für Hatchs seelische Verfassung gefährliche Folgen haben. Was für ein mentales Trauma trug man davon, wenn man auch nur kurz in die Psyche eines skrupellosen Killers versetzt worden war? Rührte die Bindung zwischen ihnen von einer Art Ansteckung her, wie bei einer biologischen Verseuchung? War das Virus in den Äther gelangt und hatte Hatch angesteckt?
Nein, einfach lächerlich. Nicht ihr Mann. Er war zuverlässig, gradlinig, anständig, sanft und ein ganz normaler Mensch.
Die Spinne hatte sich nun endgültig in der oberen rechten Fensterecke niedergelassen und damit begonnen, ein Netz zu spinnen.
Lindsey mußte wieder an Hatchs Wutausbruch in der vergangenen Nacht denken, als er den Zeitungsartikel über Cooper gelesen hatte. Sein wutverzerrtes Gesicht. Der fieberhafte harte Glanz in seinen Augen. So hatte sie Hatch noch nie erlebt. Seinen Vater, ja, aber ihn niemals. Hatch hegte zwar die Befürchtung, etwas von seines Vaters Veranlagung geerbt zu haben, aber sie hatte noch keine Anzeichen dafür entdecken können, und vermutlich war das gestern nacht auch keines gewesen. Was sie gesehen hatte, konnte vielmehr die Wut des Killers gewesen sein, die über jenes mysteriöse Band auf Hatch übergesprungen war …
Nein. Von Hatch hatte sie nichts zu befürchten, er war ein herzensguter Mann, einen besseren konnte sie sich nicht vorstellen, der reinste Quell an Güte, so daß selbst der ganze Wahnsinn dieses Killers ihm nichts würde anhaben können: Er würde sich in Hatch auflösen, bis nichts mehr davon übrig war.
Ein seidiger Silberfaden trat aus dem Hinterleib der Spinne, während sie geschäftig die rechte obere Fensterecke in Beschlag nahm. Lindsey holte ein Vergrößerungsglas aus der Schublade und hielt es über das Tier. Erst durch die Vergrößerung konnte sie erkennen, daß die hauchdünnen Beine dicht behaart waren. Die gräßlichen Facettenaugen blickten in alle Richtungen, und der gezuckte Kiefer mahlte unentwegt, wie im Vorgeschmack auf die zu erwartende Beute.
Ihr Verstand sagte Lindsey zwar, daß die Spinne genauso ein Geschöpf Gottes war wie sie selbst und deshalb nichts Schlechtes darstellte, trotzdem
Weitere Kostenlose Bücher