Das Versteck
an etwas nicht gestimmt – etwas Gravierendes fehlte –, ein Defekt, der im Lauf der Jahre immer deutlicher und erschreckender wurde, obwohl Jonas sich lange Zeit einzureden versuchte, daß das Verhalten des Jungen nur ein Ausdruck der üblichen pubertären Rebellion war. Aber der Wahnsinn von Jonas' Vater hatte bloß eine Generation übersprungen und war nun in Jeremys geschädigter Erbsubstanz wieder zum Ausbruch gekommen.
Der Junge überlebte zwar die rasende Fahrt mit der Ambulanz zum nahegelegenen Orange County General, aber er starb auf der Krankenliege, als sie ihn durch den Krankenhausflur rollten.
Jonas hatte gerade erst die Leitung des Bezirkskrankenhauses von der Notwendigkeit eines eigenen Reanimationsteams überzeugt und es auch bekommen. Anstatt nun den in die Herz-Lungen-Maschine eingebauten Wärmeaustauscher anzuschließen und das Blut des Jungen durch Zirkulation zu erwärmen, benutzten sie den Apparat zur Hypothermie, um das Blut des Jungen zu kühlen. Sie arbeiteten unter Hochdruck, mußten die Körpertemperatur drastisch senken, um ein eventuelles Absterben von Zellgewebe oder eine Schädigung des Gehirns während der Operation zu verhindern. Die Raumtemperatur wurde bis auf 10 Grad Celsius heruntergefahren, und der Patient auf beiden Seiten in Beutel mit Trockeneis gepackt. Jonas führte den Eingriff selber durch, öffnete die Stichwunde und versuchte den Schaden zu beheben, der eine Reanimation zwecklos machen würde.
Möglicherweise wußte er damals, warum er Jeremy unbedingt retten wollte, später jedenfalls konnte er seine Gründe nicht mehr definieren, geschweige denn verstehen.
Weil er mein Sohn war, sagte er sich manchmal. Ich fühlte mich für ihn verantwortlich.
Was für eine elterliche Verantwortung hatte er denn für den Meuchler seiner Frau und Tochter?
Ich habe ihn nur gerettet, um ihn fragen zu können, um eine Erklärung zu bekommen, redete er sich ein andermal ein.
Dabei wußte er genau, daß es keine plausible Antwort gab. Weder Philosophen noch Psychologen noch die Täter selbst haben jemals eine überzeugende Erklärung für auch nur eine monströse, soziopathologisch begründete Gewalttat abgeben können.
Die einzig zwingende Antwort mußte sein, daß die menschliche Rasse unvollkommen und defekt war und in sich bereits die Saat ihrer Selbstzerstörung trug. Die Kirche würde es unter Bezug auf das Paradies und den Sündenfall das Vermächtnis der Schlange nennen. Wissenschaftler würden auf das Geheimnis der Genetik verweisen, und die Biochemie würde es als Hauptfunktion der Nukleotidsequenz ansehen. Vielleicht meinten alle denselben Defekt, nur mit anderen Worten. Jonas vermutete, daß diese Erklärung, ob nun von wissenschaftlicher oder von theologischer Seite, immer unbefriedigend bleiben würde, weil sie keine Lösung anbot und keine Prophylaxe wußte. Bis auf den Glauben an Gott oder an die Wissenschaft.
Aus welchem Grund auch immer, Jonas hatte Jeremy gerettet. Der Junge war einunddreißig Minuten lang klinisch tot gewesen, was damals nicht einmal einen Rekord darstellte, weil ein junges Mädchen aus Utah noch nach Sechsundsechzig Minuten reanimiert worden war, allerdings lag hier der Fall anders. Das Mädchen hatte sich in einem Zustand extremer Unterkühlung befunden, während Jeremys Temperatur bei seinem Tod normal gewesen war, somit konnte die Wiederbelebung doch als Rekord gelten. In der Tat stellte eine Reanimation nach einunddreißig Minuten klinischem Tod bei normaler Körpertemperatur ebenso ein Wunder dar wie die Reanimation nach achtzig Minuten Hypothermie. Sein eigener Sohn und Hatch Harrison zählten somit zu Jonas' bislang größten Erfolgen – wenn man bei dem ersten überhaupt von einem Erfolg sprechen konnte.
Zehn Monate lang lag Jeremy im Koma, wurde intravenös ernährt, atmete jedoch selbständig und benötigte keinerlei Gerät, um seine lebenswichtigen Organfunktionen zu steuern. Noch im Koma wurde er vom Krankenhaus in eine erstklassige Privatklinik verlegt.
In jener Zeit hätte Jonas das Einstellen der intravenösen Ernährung auf gerichtlichem Wege erwirken können. Nur wäre Jeremy dann verhungert oder an Austrocknung gestorben, und manchmal empfindet selbst ein Komapatient Schmerzen bei einem so grausamen Tod, je nachdem, wie tief sein Koma ist. Jonas jedenfalls wollte Jeremy nicht unnötig leiden lassen. Auf irgendeine hinterlistige Art, die so tief in seinem Unterbewußtsein verankert gewesen sein mußte, daß er selber erst
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